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Die große Sprachlosigkeit und ihre Folgen ...

29. Januar 2012 geschrieben von   Freigegeben in Chassidische Geschichten

ב"ה

Eines schönen Tages Anfang vorigen Jahrhunderts saßen der Rebbe aus Rybrynica und sein Freund, der Rabbiner der Jüdischen Gemeinde im Bägeleladen und unterhielten sich.

 

„Verehrter Herr Dr. Berliner, was sausen all die guten Menschen so hitzig durch die Strassen?“ fragte der Rebbe.

 

„Ah, mein lieber Freund, das müssen Sie verstehen. Wir sind hier nämlich viel weiter, als ihr drüben im Osten. Bei uns ist die Zukunft eingetroffen – die Eisenbahn, Telegraph, elektrisches Licht und vieles mehr! Das Leben ist schneller geworden und die Menschen müssen sich schneller bewegen, logisch?“

 

„Näbich logisch... (soll heißen „unlogisch“) Bei uns bewegen sich auch einige Dinge zügig. Z.B. die Postkutsche. Aber niemand kommt auf die Idee deswegen wie die Gäule zu galoppieren.“

 

„Bei allem Respekt, lieber Rebbe, Sie haben mich missverstanden. Zu all den Dingen, die der Mensch schon immer tun musste, wie Schlafen, Essen, Trinken und Arbeiten, kamen viele neue dazu. Diese Dinge benötigen auch ihren Platz und ihre Zeit im Lauf des Tages, darum muss alles schneller gelebt werden.“

 

Der Rebbe aus Rybrynica kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und meinte: „Ich brauche also nicht mehr die Kerzen anzuzünden – wegen Strom und so?“

 

„Ja!“ nickte Dr. Berliner erfreut.

 

„Und meine Mome braucht keine Sojße mehr zu machen, weil sie fertige kaufen kann?“

 

„Ja!“

 

„Und ich brauche keine Briefe mehr zu schreiben, sondern kurze Telegramme?“

 

„Ja!“

 

„Auch so ...“ Der Rebbe aus Rybrynica schwieg eine lange Weile, was für ihn ungewöhnlich war, so dass Dr. Berliner besorgt fragte:

 

„Lieber Freund, Sie sagen nichts?“

 

„Doch, doch, verehrter Dr. Berliner, ich habe alles gesagt – schweigend! Schweigen geht nämlich viel schneller! Nur eine Sache noch: Was machen wir morgen?“

Baruch ben Mordechai HaKohen

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