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Paraschat “WAJEZE“ Empfehlung

07. November 2021 geschrieben von   Channa Rachel Freigegeben in Wajetze

ב"ה

Paraschat “WAJEZE“

Auszug aus: Studien zu den wöchentlichen Tora-Vorlesungen,
von Nechama Leibowitz

Jaakows Traum

Als Jaakow aus seiner Heimat und seinem Vaterhaus flüchtet, als er in der Nacht
umherirrt und schließlich ohne Dach über dem Kopf, mit einem Stein als Kopfkissen sich
niederlegt - da erschien ihm Gʻtt im Traum. Benno Jacob unterscheidet innerhalb der
zahlreichen Träume von Bereschit zwei Arten:

a) Jene, in welchen Gʻtt zum Menschen spricht;
b) jene, durch welche Gʻtt zum Menschen spricht, wie die Träume Josefs sowie des Mundschenks und des Bäckers von Paro.

In dieser zweiten Art offenbart Gʻtt sich durch
Bilder und Entsprechungen, die erst der Deutung bedürfen. Jaakows Traum enthält Gʻttes
Rede, schickt dieser aber ein Bild voraus. Und diese Bildersprache bedarf der
Interpretation. Dieses Bild hat Exegeten des einfachen Wortsinnes ebenso wie aggadische
Erklärer, Dichter und Künstler aller Generationen beschäftigt. “Siehe, eine Leiter steht auf
der Erde, und ihrer Spritze reicht bis zum Himmel, und siehe, die Engel Gʻttes steigen
daran auf und ab, und siehe, Gʻtt steht darauf“ (Bereschit 28:12-13). Unter den vielen
midraschitischen Erklärungen soll hier die des Midrasch Tanchuma herbeigezogen werden,
welche auch von Nachmanides übernommen wurde. Dort heißt es, Gʻtt habe Jaakow die
Fürsten verschiedener Völker (Babylon, Persien, Griechenland) viele geschichtliche
Phasen erklimmen und wieder herunterkommen sehen, schließlich auch Edom
(Umschreibung für Rom), und habe da nicht mehr gesehen, wieviele Phasen er hinaufstieg.

Da fürchtete sich Jaakow und fragte: “Vielleicht wird es für diesen keinen Abstieg mehr
geben?“ Doch da tröstete ihn Gʻtt mit dem Vers: “Und du fürchte dich nicht, Mein Knecht
Jaakow, und habe keine Angst, Israel“ (Jeschajahu 40:10). Auch wenn es aussieht, als
würde Edom nie mehr stürzen, sagt Gʻtt Jaakow dessen Abstieg zu: “Wenn du dich erhebst
wie ein Adler, und wenn du dein Nest zwischen die Sterne legst, von dort werde Ich dich
herunterholen, ist Gʻttes Rede“ (Owadja 1:4). Auch Sforno betont in seinem Kommentar,
Gʻtt, der über der Leiter thront, auf welcher die Völker sich erheben, werde Sein Volk nicht
verlassen.

Diese Deutung versteht den Traum als Bild der Menschheitsgeschichte, als Aufstieg
und Niedergang von Völkern und Kulturen bis zum Ende der Generationen. Wenn wir
fragen, in welcher Beziehung der Traum aus dieser Sicht mit Jaakow stehen soll, der als
Flüchtling unterwegs ist, der heiraten und die Nachkommenschaft Awrahams und Jizchaks
fortführen wird, so ist die Position des Midrasch dazu, dass dieser Traum nicht zu Jaakow,
dem Flüchtling spricht, sondern zu dem, der er einst sein wird: Israel, das durchs Exil
getriebene Volk, das den Aufstieg und Niedergang Ägyptens, Assyriens, Babyloniens,
Persiens und Griechenlands erleben wird. Bloß den Niedergang Roms hat der Erklärer des
Midrasch noch nicht erlebt, und die Herrschaft Roms setzt sich als Herrschaft des
Christentums (das in der ganzen rabbinischen Literatur bis ins Mittelalter als Edom
umschrieben wird) weiter durch alle Generationen fort. Den Niedergang auch dieser Macht
sagt der Midrasch unter Zitierung des Verses aus Owadja voraus. Wie jede Leiter, so hat
auch diese, welche hier als Entsprechung der Zeit gedeutet wird, ihr Ende, und an diesem
Ende steht Gʻtt, und Er garantiert als Herr der Geschichte, dass eines Tages alle Großen
fallen werden. Das Ende der Zeit wird keine solche Leiter mehr kennen, sondern die in
Liebe vereinten Völker, die zu Gʻttes Berg strömen (Jeschjahu 2).

Vollkommen anders aber deutet Raschi den Traum. Seine Deutung bleibt ganz der im
Gang befindlichen Erzählungen verhaftet, in deren Kontext der Traum steht. Für Raschi
sind dies Wesen, die auf-und absteigen nicht Fürsten von Völkern, sondern Engel, wie es
im Text explizit steht und dies verleitet ihn zur Frage: Wenn es Engel sind, himmlische
Wesen, weshalb heißt es dann, “sie stiegen auf und ab“, und nicht umgekehrt? Himmlische
Wesen müssten doch zuerst hinabsteigen! Er erklärt: “Die Engel, die ihn im Land Kenaan
begleiteten, zogen nicht mit ins Ausland und stiegen himmelwärts, und von dort kamen die
Engel des Auslands, ihn zu begleiten.“ Das heißt: Die Beschwernisse, Probleme und
Erfahrungen eines Menschen in seinem Lande gleichen nicht denen, die er im Ausland
erlebt, er braucht unterschiedliche Engel, um ihn hier und dort zu beschützen, doch immer
wird Jaakow von schützenden Engeln begleitet.

Raschis Kommentar passt ausgezeichnet zur Sidra Wajeze und ihren Bericht über
Jaakows Leben und seine Leiden vom Moment an, da er Beer Schewa verlässt, bis er
nach zwanzig Jahren in der Fremde zurückkommt, wo er in Machanajim wieder Engel
antrifft (33:2). Inspiriert von dieser Sidra wurde der Psalmist, der diesmal aber nicht zur
einmaligen Person Jaakow spricht, sondern zu Jaakows Nachkommen, der Gʻtt vertraut:
Denn deine Engel wird Er für dich befehlen, dich zu beschützen auf all deinen Wegen. Auf
Händen werden sie dich tragen, dass du deinen Fuß nicht gegen den Stein
schlägst.“ (Tehilim 91:11-20)