Haftarot – Prophetenlesungen eine Einleitung

05. April 2012 geschrieben von   Freigegeben in Haftarot Prophetenlesungen

ב"ה

Einleitung

Haftara bezeichnet eine zusätzliche Rezitation Heiliger Schriften neben den 5 Büchern Mosches. Die Wurzel des Wortes Haftara ist פטר(patar) mit der Grundbedeutung „freilassen“, so dass die erste Bedeutung von Haftara Freiheit ist.

Die öffentliche Lesung der Thora geht auf keinen Geringeren als Mosche Rabbenu zurück, der Israel dazu anhielt, sich als ganzes Volk alle sieben Jahre zu versammeln, um die Thora zu hören, zu lernen und den Ewigen, g.s.E. zu fürchten.

 

[1] Gemäß ältester Quellen richtete Mosche Rabbenu die Thoralesung an den Schabbattagen und den Festen ein.

 

[2] Esra verfügte, die Thora ebenfalls am Montag und Donnerstag zu lesen.

 

[3] Neben den fünf Büchern Mosches hatte man die Freiheit, schon lange vor der Kanonisierung auch andere Heilige Schriften zu lesen. So wurden z.B. Psalmen bereits bei der Einweihung des ersten Tempels vorgetragen. Zur Zeit König Schlomos las und lernte man zusätzlich die von ihm verfassten Schriften Kohelet und Schir HaSchirim (Hohelied), seit dem 9. Jahrhundert v.u.Z. nach und nach die Propheten

 

[4] und seit der exilischen und nachexilischen Zeit Nehemia, Esther und Ruth.

In der Zeit des Hasmonäerstaates unter der Regierung Antiochos IV. Epiphanes (215-164 v.u.Z.) wurde das Verbot die Thora öffentlich zu lesen verhängt. Auf diese Weise wollten die Griechen die Juden von ihren Heiligen Schriften isolieren, um so ihren Glauben zu schwächen. Sie wussten jedoch nichts über die Freiheit der Juden im Umgang mit den Heiligen Schriften, die es den Weisen ermöglichte an die Stelle der Thoralesung eine Haftara zu setzen. Sie entschieden sich, sie aus den Newi'im (Propheten) zu wählen und zwar so, dass sie inhaltlich im Zusammenhang mit der jeweiligen zu lesenden Parascha (Thoraabschnitt) stand.

 

[5] Als das Verbot aufgehoben wurde, behielt man die Prophetenlesung bei.

Gemäß der Tradition ist diese historische Begebenheit der Ursprung der Haftara, wie wir sie heute definieren, nämlich als die Institution der Lesung eines ausgewählten Abschnittes aus den Newi'im, die in der Synagoge im morgendlichen Schabbatg-ttesdienst, Schacharit leSchabbat und im feiertäglichen Schacharitg-ttesdienst nach der Kriat HaThora (Thoralesung) stattfindet. In diesem Sinne wird Haftara (Pl. Haftarot) mit Abschluss übersetzt, da die öffentliche Lesung der Heiligen Schriften, jedoch nicht der G-ttesdienst, mit der Haftara beendet wird. An Fasttagen wird die Haftara zu Mincha (Gebet am Nachmittag) gelesen. Ausnahmen sind Jom HaKippurim und der neunte Aw; denn hier werden zwei Haftarot, nämlich zu Schacharit und Mincha gelesen. Vollständigkeitshalber sei hier erwähnen, dass in der rabbinischen Literatur noch ein, heute eher ungebräuchlicher aramäischer Begriff: Aschlamta, wörtlich Vervollständigung für diese Lesung zu finden ist. Wissenschaftlich gesehen gibt es allerdings kaum historische Belege, um über den Ursprung der Haftara eindeutige Aussagen machen zu können.

 

Gelehrte aus dem 19. und 20. Jahrhundert[6] vertreten die Meinung, dass die Haftara eingeführt wurde, um sich von Sekten, besonders den Samaritanern zu distanzieren, die nur die Thora akzeptierten und alle Propheten nach Mosche Rabbenu ablehnten. Adolf Büchler und Zvi Idelsohn gründen ihre These auf die Bracha (Lobspruch), die vor der Lesung gesprochen wird: „Gelobt seist Du, Ewiger, unser G-tt, König der Welt, der gute Propheten auserwählt hat und Gefallen hatte an ihren, in Wahrheit gesprochenen Worten. Gelobt seist Du Ewiger, der die Thora auserwählt hat und Mosche, Seinen Diener, Jisrael, Sein Volk und die Propheten der Wahrheit und der Gerechtigkeit.“

 

[7] Diese Bracha zeigt, dass auch die Propheten von G-tt auserwählt, anerkannt und damit für die Gemeinde relevant sind.

Der älteste Hinweis auf die Lesung der Haftara findet sich im NT in der Apostelgeschichte: Nach der Lesung der Thora und der Propheten [Haftara] aber schickten die Vorsteher der Synagoge zu ihnen ...“(Apg. 13,15). Einen weiteren Beweis, für die Lesung der Haftara finden wir im Lukasevangelium: „16 Und er [Jeschua] kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Schabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen. 17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jeschajahu gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht (Jeschajahu 61,1-2): ...“ (Lukas 4,16-17).

 

Die Mischna[8] beschränkt sich darauf, bestimmte Abschnitte aus den Nevi'im als Haftarot zu verbieten.

 

[9] Sowohl der Beleg aus dem NT als auch der aus der Mischna geben Anlass zur Spekulation, ob es zu dieser Zeit bereits eine festgeschriebene Ordnung für die Haftara gab. Die meisten Gelehrten sind der Ansicht, dass keine feste Ordnung vorlag.

In der mischnaischen Literatur ist das früheste Zeugnis einer spezifischen Auswahl für eine Haftara in der Tosefta Megilla 4,1 zu finden. Hier werden die Haftarot für die vier besonderen Schabbatot

 

[10] genannt. Der babylonische Talmud überliefert in einer Baraita (taanitische Lehre, die nicht in die Mischna aufgenommen wurde) eine Liste mit den Haftarot für die großen Feiertage, die dazugehörenden Schabbatot, für Rosch Chodesch, wenn er auf einen Schabbat fällt, für den Rosch Chodesch und Chanukka vorausgehenden Schabbat und den 9. Aw.

 

[11] Die Haftarot für die anderen Schabbatot wurden lange Zeit nicht aufgelistet, was die These, dass sie frei wählbar waren untermauert.

In der Midraschliteratur, besonders in den Predigtsammlungen, wie z.B. der Pesikta des Raw Kahana, sind die Haftarot aufgenommen, was die Kombination von Parascha und Haftara aufzeigt.

Während die Thora fortlaufend gelesen wird, gibt es keinen Prophetenzyklus. Die Haftarot umfassen einzelne Abschnitte aus den Newi'im (Propheten), die, wie im Talmud

 

[12] festgelegt, einen inhaltlichen Zusammenhang mit der entsprechenden Parascha aufweisen müssen. Diese kann auf zweierlei Weise gegeben sein, entweder durch einen inhaltlichen Bezug oder durch einzelne, in beiden Texten vorkommende Wörter. Demzufolge unterscheidet sich die Auswahl aus den Newi'im (Propheten) in den jüdischen Gemeinden und so finden wir nicht nur eine aschkenasische und eine sephardische Ordnung noch zahlreiche andere.

 

[13] Allerdings stimmt die Auswahl der Haftarot in allen Gemeinden weitgehend überein. Haftarotlisten aus dem dreijährigen Thoralesezyklus zeigen eine besondere Sympathie für den Propheten Jeschajahu, aus dem die Hälfte der Haftarot bestimmt sind. In dem heute üblichen einjährigen Zyklus ist die Auswahl der Passagen aus den Newi'im breiter gestreut, trotzdem dominiert hier ebenfalls Jeschajahu und neben ihm 1. und 2. Könige. Das einzige Buch, das komplett gelesen wird ist Obadja. Fallen zwei Paraschot zusammen, dann gilt in der Regel die Haftara der zweiten Parascha. Am Schabbat Rosch Chodesch (Neumond) und am Schabbat vor Rosch Chodesch kann eine andere Haftara gewählt werden. Ist ein Bräutigam in der Hochzeitswoche anwesend, dann wird die Haftara aus Jeschajahu 61,10-63,9 gelesen. Im Gegensatz zu diesem lockeren Auswahlwahlverfahren gibt es zwei Ausnahmen, nämlich die Lesung der Haftara aus Secharja (Sacharja) zum Schabbat Chanukka

 

[14] und die für die Schabbatot vom 17. Tammus bis Sukkot aus Jirmejahu und Jeschajahu.

 

[15] Die Lesung der Haftara folgt einem bestimmten Ritus, der im Schulchan Aruch ausgeführt wird.

 

[16] Zunächst wird die Paraschat haSchawua (wöchentlich zu lesender Thoraabschnitt) von sieben Männern gelesen, wobei der siebte die Thoralesung mit einem halben Kaddisch abschließt. Nun folgt der Aufruf eines achten Mannes, des Maftirs, der die letzten drei Verse der Parascha noch einmal wiederholt. Vor der Haftara spricht er eine Bracha, die betont, dass der Ewige, g.s.E., neben Mosche auch die Newi'im ausgewählt hat, Seine Worte in Wahrheit zu sprechen. Nach dem Beenden der Haftara folgt eine weitere Bracha, in der die Zuverlässigkeit HaSchems und die Erfüllung Seiner Worte zum Ausdruck kommt und in der ausdrücklich für die Propheten gedankt wird.

 

[17]Traditionell wird die Haftara, wie auch die Thora nicht gelesen, sondern gesungen. Die Haftara hat ihre eigene Intonation in einer Molltonart, die der Melodie eine klagend, traurige Nuance verleiht.

Es ist Brauch geworden einen BarMitzwa Jungen die Haftara lesen zu lassen. Allerdings sind einige Haftarot, wie z.B. Jecheskel 1, von so großer Wichtigkeit, dass ein Minderjähriger von dieser Lesung ausgeschlossen wird.

Der folgende Kommentar zu den Haftarot gibt zunächst einen Überblick über die einzelnen Bücher der Propheten und der von ihnen behandelten Thematik und beschäftigt sich dann mit den Inhalten der Haftarot unter Berücksichtigung der Verbindung zu den Paraschot. Die Interpretation bezieht die Midraschim mit ein.

Haftarot Übersicht

 

[1]    Vgl. Dewarim 31,9-13
[2]    Vgl. I. Elbogen: Der jüdische G-ttesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Olms 1995, S. 156; Mischna Megilla 3,1; Apostelgeschichte 15,21
[3]    Vgl. Nechemia 8; Traktat Bava Kama 82b; Jerusalemer Talmud 1,3; 70b
[4]    Vgl. I. Elbogen: Der jüdische G-ttesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Olms 1995
[5]    Vgl. R.David Abudraham, Spanien, 14.Jahrhundert und auch Tosafot Jom Tow, Megilla 3,4
[6]    Samson Raphael Hirsch, 1808-1888, Rabbiner und Schriftsteller; Adolf Büchler, 1867-1939, Rabbiner und Historiker und Abraham Zvi Idelsohn, 1882-1938, jüd. Musikforscher
[7]    Siddur Schma Kolenu, Basel Zürich 2000, S. 391
[8]    Vgl. Mischna Megilla 4,10
[9]    Ebd. Jecheskel 1,4ff und Jecheskel 16,2ff
[10]   Dies sind die vier Schabbatot vor Pessach: Schabbat Schekalim, Schabbat Sachor, Schabbat Parah, Schabbat HaChodesch
[11]   Babylonischer Talmud Megilla 31a-b
[12]   Babylonischer Talmud Megilla 29b
[13]   So haben unter anderem die italienischen, die jemenitischen, die orientalischen Juden und auch die Karäer ihre eigene Ordnung. Darüber hinaus folgen sogar einzelne Städte, etwa Frankfurt am Main oder chassidische Bewegungen, allen voran Chabad, ihren eigenen Bräuchen.
[14]   Babylonischer Talmud Megilla 31a
[15]   Vgl. Pesikta des Raw Kahana
[16]   Vgl. Schulchan Aruch Kapitel 79
[17]   Vgl. Siddur Schma Kolenu, S. 392f