Bereschit 12:1 - 17:27 aus: „Studien zu den wöchentlichen Torah-Vorlesungen“, Nechama Leibowitz
Maimonides beginnt die Hilchot Awoda Sara (Gesetze über den Götzendienst) mit einem Abriss der Geschichte des Glaubens seit der Erschaffung der Menschheit bis hin zu Awraham. In den Tagen Enoschs kam es danach zu einem grundlegenden Irrtum der Menschheit, indem der Glaube eingesetzt habe, auch die Gestirne, die Gʻtt oben am Himmel plaziert hatte und die in einem weiteren Zusammenhang mit dem Planeten Erde standen, seien nach Gʻttes Willen einer bestimmten Würdigung wert, so wie ein König sich selbst zu Ehren die Ehrung seiner Würdenträger verlangt.
So begann man den Gestirnen eigene Tempel zu bauen und Opfer darzubringen. Das bedeutete nicht etwa, dass die Menschen in ihrem Glauben von Gʻtt abkamen und an die Gestirne als eigenständige Götter glaubten. Obwohl sie um die Macht und Einzigkeit Gʻttes wussten, verfielen sie dennoch in den Irrglauben, sich durch einen Dienst an den Sternen Sein Wohlgefallen zuzuziehen.
Mit der Zeit aber standen falsche Propheten auf, die beanspruchten, direkt im Namen Gʻttes die Menschheit zum Dienst an diesem oder jenem Gestirn aufzufordern, wobei sie selbstgeschaffene Symbole als Symbole dieser Sterne ausgaben. So führten sie einen eigenständigen Bilderdienst ein, mitsamt einem Kultus, einer Priesterschaft etc. ...
So wuchsen mit der Zeit Generationen heran, die von Gʻtt nichts mehr wussten und Ihn nicht kannten. Die ganze Erziehung und das Wissen der Gelehrten selbst war nur noch auf diese Götter ausgerichtet, und bloß Einzelne, wie Methusalem, Henoch, Noach, Schem und Ewer, wussten noch von Gʻttes Existenz.
So entwickelte sich die Welt bis zur Geburt Awrahams. Dieser begann sich Tag und Nacht zu überlegen, wie es möglich sei, dass der Lauf der Welt immer diesen Weg gegangen und ohne führende Kraft gewesen sei. Da er es als unmöglich erkannte, dass sich der Kosmos selbst organisiert, fragte er sich, wer dies täte. Ein vollkommener Autodidakt, begann er zu begreifen, dass es einen einzigen, alles dirigierenden Gʻtt gebe, neben dem keine weitere Gʻttheit existiere.
Awraham erkannte, dass alle um ihn herum irrten. Als er gedanklich über sie hinauswuchs, wollte ihn der König Nimrod töten, doch er wurde durch ein Wunder gerettet. Er ging nach Charan, begann dort die Götzenbilder zu zerschlagen und die Sinnlosigkeit allen ʻGʻttesdienstesʻ ausserhalb des Dienstes des einen Gʻttes zu verkünden! Und so ging er, verkündend, von Stadt zu Stadt und von Reich zu Reich, bis er nach Kanaan kam. Soweit Maimonides.
All die inneren und äußeren Kämpfe Awrahams, auf die Maimonides sich hier bezieht, sind im Text der Torah nicht erwähnt, sondern wurden später von den Gelehrten in Midrasch und Aggada erzählt. Wie er, der Sohn des Götzenhändlers Terach, dessen Kunden davon überzeugte, von den Götzen abzulassen, zu deren Kauf sie in den Laden gekommen waren, wie er die Götzen zerschlug und er dann in den Feuerofen geworfen wurde - ein Vorgänger so vieler, die am Gʻtt Awrahams festhielten: All dies fehlt im Text der Torah. Dort ist lediglich am Ende der Sidra Noach kurz von Awrahams Abstammung und den Namen seiner Verwandten die Rede, und die Sidra Lech Lecha beginnt:
“Gʻtt sprach zu Awraham: Geh hinfort aus deinem Land und aus deiner Heimat und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das Ich dir zeigen werde. Und Ich werde dich zu einem großen Volk machen, und Ich werde dich segnen und Ich werde deinen Namen groß machen, und du wirst ein Segen sein...“
(Bereschit 12: 1-3)
... Eine Ausweitung dieses einzelnen Lichtes, das da von Ur Kasdim aufbricht, in „das Land, das Ich dir zeigen werde“, als Lichterglanz über die ganze Erde, ist da ausgedrückt. Nach dieser Stelle wird dieser Gedanke des weltumfassenden Segens für alle “Völker der Welt“ bzw. alle “Familien der Erde“ in Bereschit noch viermal ausgedrückt, noch zweimal bei Awraham (18:18; 22:18), einmal bei Jitzchak (26:4) und einmal bei Jaakow (28:14), also gerade bei jenen Männern, die die Stammväter eines ganz spezifischen Volkes sein werden.
... Die Gelehrten haben festgestellt, dass die Trennung Awrahams von Gʻtt eigentlich entgegen der natürlichen Ordnung formuliert wird. Es müsste die Reihenfolge “von deinem Vaterhaus, von deiner Heimat und von deinem Land“ stehen, denn so verlaufen die Schritte der Trennung bei einem Auswanderer. Rabbi Jakov Zwi Mecklenburg bemerkt in “HaKtav weHaKabbala“, dass hier nicht von der physischen Trennung gesprochen wird, sondern von der in umgekehrter Richtung verlaufenden geistigen Trennung, die sich, je näher ein Ort biographisch liegt, desto schwerer gestaltet. Bei der ersten und bei der letzten der Prüfungen, die Awraham zu bestehen hat, verwendet Gʻtt dieselbe Aufforderungsformel, nämlich “geh hinfort“: Beim Weggang aus dem Haus des Vaters und bei der Bindung Jitzchaks, wo Awraham mit derselben Formulierung auf den Weg geschickt wird (22:2). Bei der ersten Prüfung muss er sich von seiner Vergangenheit lossagen, bei der letzten Prüfung muss er, wie er im Augenblick seiner unbedingten Zustimmung meint, auf seine Zukunft, seinen Sohn, verzichten. In den beiden Sidrot “Lech Lecha“ und “Wajera“, zwischen den Verzichten auf Vergangenheit und auf Zukunft, durchläuft Awraham Prüfung um Prüfung, Offenbarung um Offenbarung.
Benno Jacob macht auf den fünffachen Gebrauch des Wortstammes “Segen“ in den zitierten drei Sätzen Bereschit 12:1-3 aufmerksam. Dies entspricht zahlenmäßig der fünffachen Nennung des Begriffs “Licht“ bei der Weltschöpfung. Mit Awraham, so Benno Jacob, wird eine zweite Welt geschaffen, eine Welt, in welcher die Menschheit ihren Segen durch einen Menschen erhält.