Ein Duett

29. Januar 2012 geschrieben von   Freigegeben in Chassidische Geschichten

ב"ה

Der Rebbe aus Rybrinica war in jeder Hinsicht ein skurriler Mann. Wenn die Menschen weinten, lachte er, wenn sie lachten, weinte er. Auf eine Frage gab er zwei Antworten, oder stellte im Gegenzug zwei neue Fragen. Tatsächlich, der Umgang mit ihm erforderte Geduld und Langmut. Der Rabbiner Dr. Berliner war jemand mit diesen besonderen Eigenschaften. Daher wurde es bei seinen Schülern zur Gewohnheit, die Fragen an den Rebbe aus Rybrinica über Dr. Berliner zu übermitteln, denn skurril oder nicht – man musste dessen Begabung, die Tiefen der Thora auszuloten, anerkennen.

Eines Tages wandte sich ein junger Mann an Dr. Berliner, den Rebbe aus Rybrinica wegen einer schwierigen Stelle zu befragen.

Dr. Berliner traf den Rebbe in dessen Zimmerchen, das er sich bei einer Witwe zur Untermiete nahm. Wie gewöhnlich saß der Rebbe an seinem kleinen Tischchen und lernte. Der altersschwache Stuhl krächzte unter den rhythmischen Bewegungen des Rebbe Oberkörpers. Der Raum war vom eigentümlichen Singsang erfüllt.

Dr. Berliner setzte sich leise auf den zweiten Stuhl im Zimmer (es gab nur zwei) und wartete.

Plötzlich sprang der Rebbe hoch, der Stuhl sprang mit ihm und fiel rückwärts. „Hallelu et Adonai kol haGojim!“ (Lobet den Ewigen alle Völker) sang er aus ganzer Kehle und vollführte einen Kasachok, einen Kosakentanz. Die Beine flogen in alle Richtungen, die Hände klatschten auf die Absätze der abgewetzten Schuhe und auf die Oberschenkel, auf eine wundersame Art und Weise blieb aber des Rebbe Hut auf dessen Kopf kleben.

 

Unwillkürlich lachte Dr. Berliner und klatschte mit in die Hände, auch seine Beine entwickelten ein Eigenleben und wetzen über die Holzdielen. „Wer kann schon diesem Mann widerstehen?“ dachte Dr. Berliner, und gab sich der Freude hin.

 

Genauso plötzlich wie er anfing, hörte der Rebbe auf zu tanzen, wurde ernst, stellte den Stuhl auf, setzte sich unmittelbar vor Dr. Berliner hin und fixierte dessen Augen aus etwa zwanzig Zentimeter Entfernung.

„Sag’ dem Jungen, die Thora ist nicht dazu da, die eigene Intilegenzia zu bewundern!“

Dr. Berliner war nicht besonders überrascht, dass der Rebbe den Grund seines Besuchs erkannte.

„Gut, sage ich ihm“, entgegnete Dr. Berliner und blickte besorgt. „Da wäre noch etwas“, fügte er nach einer kurzen Weile hinzu. „Dieser Junge, Menachem, ist der Sohn meines Schwagers, des Ger Zedek Reb Ezra ben Abraham. Er ist auf meinem Schoß aufge-wachsen. Menachem ist ein Talmid Chacham. Schon seit er sieben war, lernte er Talmud bei den Erwachsenen. Nun plagen ihn Zweifel. Hilf mir, lieber Freund, was soll ich tun? Wie kann ich ihm helfen?“

„Sein Problem ist gerade seine Begabung, sein scharfer Verstand“ fing der Rebbe an. „Wir kennen beide die Problematik der Gaonim (Genies) – der Genuss am Denkvorgang ist auch eine Versuchung.“ Der Rebbe dachte einige Minuten intensiv nach. „Sag’ ihm folgendes: Das Grübeln darüber, wieso ein Mensch unglücklich bleibt, obwohl er alle Gebote erfüllt, ist der Versuch aus eigener Kraft die Welt zu retten. Das Bemühen, die Gebote mit immer größerer Anstrengung und Kawana (Konzentration) zu tun, mündet schließlich immer in Verzweiflung.“

„Aber sollen wir nicht den Ewigen, g.s.E., mit aller Kraft lieben?“

„Ja, sicher: Mit aller Kraft, also auch mit der Kraftlosigkeit. Erst damit geben wir dem Heiligen, gelobt sei Sein Name, die ganze Ehre.“

Da erstrahlte das Gesicht von Dr. Berliner. Er küsste den Rebbe auf beide Backen und nach chassidischer Sitte auch auf die Lippen und beide beendeten den Abend mit Tanz und Gesang.