Die drei Wochen der Trauer
Innehalten – Nachsinnen – Aufbrechen
Mit dem 17. Tamus, der erstmals von dem Propheten Sacharja(8,19) genannt wird, beginnt eine dreiwöchige nationale Fasten- und Trauerzeit, die mit dem TISCHA BE-AW, dem 9. Aw endet. Beide Tage erheben sich wie Mahnmale in der Geschichte Israels und grenzen die Zeit der Bedrängnis ein. In dieser immer wieder unheilvollen Periode, trugen fatalerweise die Feinde Israels allemal den Sieg davon. Das einschneidenste Ereignis ist die Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n.u.Z. durch die Römer, denen es am 17. Tamus gelang, eine Bresche in die Stadtmauern Jeruschalajims zu schlagen, sich während der folgenden drei Wochen trotz erbitterten Widerstandes bis zum heiligen Tempel, dem BET HAMIKDASCH durchzukämpfen und ihn zu zerstören. Israel verlor nicht nur sein Heiligtum, sondern auch seine nationale Selbstständigkeit. Eine fast 2000 Jahre andauernde Zeit des Exils begann.
Innehalten
Im Talmud lesen wir:
Fünf Unglücksfälle trafen unsere Väter am 17. Tamus. Am 17. Tamus
· zerbrach Mosche die Bundestafeln in Folge der Sünde mit dem goldenen Kalb (Exodus 32, 19);
· wurde während der Belagerung Jeruschalajims durch das Heer Nebukadnezars das tägliche Opfer, KORBAN TAMID im Tempeldienst aus Mangel an Lämmern unterbrochen
· durchbrachen die Römer unter Titus die Stadtmauer Jeruschalajims
· verbrannte Apostomos die Thora
· wurde ein Götzenbild in den Tempel gestellt (vgl. Könige 2, 21,7; Mischna Ta'anit 4,6; j. Ta’anit 4,5)."
Diese fünf Katastrophen lassen Israel jedes Jahr am 17. Tamus innehalten, sie zwingen regelrecht zum Nach- und Umdenken und so fastet man an diesem Tag, vom Tagesanbruch an bis zum Einbruch der Dunkelheit isst noch trinkt man etwas. Die Weisen Israels legten für die nun folgenden drei Wochen der allgemeinen Trauer, die strenger als die Omertage sind, folgende Bräuche fest:
· man schneidet sich nicht die Haare
· man rasiert sich nicht
· es wird nicht gefeiert
· es finden keine Hochzeiten statt
· man spielt keine Musik und musiziert auch nicht selbst
· man zieht keine neuen Kleider zum ersten Mal an
· man lernt über den Tempel
· ab dem 1.Aw nimmt man, außer am Schabbat, weder Fleisch noch Wein zu sich
Auch im G-ttesdienst ist die Trauer und die Schwere dieser Zeit, an der Art wie die Gebete gesprochen werden zu spüren. Und in der letzten Woche sehen die Beter in den Synagogen selbst die Thora ohne ihren Schmuck, denn sie trauert ebenso über den Verlust des BET HAMIKDASCH, gibt es doch nun keinen Ort mehr der unmittelbaren Gegenwart G-ttes und seiner Güte; keinen Ort von Eindeutigkeit in allen Fragen der Wahrheit, des Rechtes und der Gerechtigkeit. Der Schmerz tief im Herzen und die Trauer über den Verlust des Heiligtums und des sich daraus ergebenden Exils sind gegenwärtig, sind spürbar und lassen die Menschen verstummen. Es kommt zum Rückzug der Seele aus dem täglichen Geschehen. Die Essenz dieser Zeit der Furcht wird im Buch EJCHA, Klagelieder 1,3 treffend formuliert:
„Juda ist ausgewandert vor Elend und vor schwerer Dienstbarkeit; es wohnt unter den Nationen, hat keine Ruhe gefunden; seine Verfolger haben es in der Bedrängnis ergriffen.“
Nachsinnen
G-tt ließ es zu, dass der Tempel zerstört wurde und Sein Volk Israel ins Exil, in die GALUT ging. Das ist nicht nur ein physischer Abstieg, sondern auch ein spiritueller, der einzig und alleine dazu dient, einen Prozess der Reinigung zu durchlaufen, das Böse zu überwinden, um auf ein neues spirituelles Niveau zu steigen. Die Essenz der GALUT ist die Zerrüttung der Spiritualität Israels. Vollkommene Spiritualität findet sich nur dort, wo es einen Ort gibt, an dem die Thora in Vollkommenheit erfüllt werden kann und das ist der Tempel. Mit der Zerstörung des Tempels geht die Zerstörung der Thora einher und solange es keinen Tempel gibt, wird der spirituelle Abstieg weitergehen. Das alles beschreibt den tiefsten Grund der Trauer.
Die Weisen Israels sagen, dass der erste Tempel aufgrund von Götzendienst, Unzucht und Blutvergießen zerstört wurde und der zweite wegen grundlosem Hass, SIN'AT CHINAM (Traktat Jona 9b). Außerdem nennt der Talmud (Schabbat 119b; Baba Mezia 30 b; Gittin 55b) zehn weitere Gründe:
· man unterließ das Morgen- und Abendgebet
· eine einzige Beleidigung
· man entweihte den Schabbat
· man hielt die Schulkinder vom Unterricht ab
· man missachtete die Schriftgelehrten
· man wies einander nicht zurecht
· es fehlte an gegenseitiger Schamhaftigkeit
· Klein und Groß dünkten sich ebenbürtig
· es waren keine Männer von Treu und Glauben mehr vorhanden
· sie richteten sich nach dem Recht der Thora (d.h. nach dem Buchstaben des strengen Gesetzes)
Dies sind nicht nur historische Ereignisse, sondern sie betreffen das Verhalten im täglichen Zusammenleben der Menschen. Und so begibt man sich selbst in die Geschichte hinein, hat Anteil an ihr, vollzieht sie nach, bezieht sie auf sich und gräbt tiefer und tiefer, um zu verstehen und zu lernen. Das Befolgen der oben genannten Riten der Trauer gibt Raum für ein beständiges Nachsinnen, sowohl über die historische Tatsache der Zerstörung des Tempels als auch über den persönlichen Anteil daran. Daraus erwächst die Erkenntnis, dass die spirituellen und moralischen Unzulänglichkeiten, die zur Zerstörung der beiden Tempel führten, mehr als historisch sind. Sie sind von ewiger Bedeutung, sie sind das Fundament aller gegenwärtigen Schwächen und Krisen. Auch stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang der Ereignisse des 17. Tamus und denen des 9. Aws. Die Weisen der Mischnah erklären, dass den fünf Ereignissen des 17. Tamus fünf Ereignisse des 9. Aw gegenüberstehen, zusammen sind es zehn. Die Zahl zehn zeigt Vollständigkeit an und so ist der 17. Tamus der Tag der Vorbereitung der Katastrophe und der 9. Aw ihre Vollendung. Letztendlich wird man gewahr, dass am Anfang der Bedrängnis die Ungeduld des Volkes stand, die zur Sünde mit dem goldenen Kalb führte, in deren Folge Mosche die Tafeln des Bundes zerbrach. Israel ist berufen den Völkern die Herrlichkeit G-ttes zu zeigen, jedoch sind Schwachheit und Begrenztheit in dieser Welt Realität. Die Ursache aller Ereignisse des 17. Tamus liegt darin, dass es Israel am Sinai an der nötigen spirituellen Kapazität fehlte, die ersten Tafeln des Bundes zu empfangen. Und das ist die Essenz des 17. Tamus, die zur Katastrophe des 9. Aw führt. Der 17 Tamus birgt aber auch das Geheimnis des Maschiachs, des endgültigen Erlösers in sich, denn aufgrund der Sünde mit dem goldenen Kalb wird klar, dass es eine besondere Kraft braucht, um die uneingeschränkte Liebe G-ttes zu empfangen und sie der Welt zu spiegeln.
Aufbrechen
Mit dem Eintritt in den Monat Aw verdichtet sich die Trauer noch einmal. Die Fastenbräuche werden verschärft und auch das bewusste Wahrnehmen der Schwere der Zeit ist vertieft. Es gibt keinen Tempel mehr, aber es gibt den Menschen, in dem G-tt wohnen möchte, also gilt es noch einmal mehr innezuhalten, nachzusinnen und umzukehren. Fasten bedeutet nicht ins Bodenlose zu fallen, sondern beinhaltet den Willen zur Veränderung, nicht das Verharren im alten Zustand, sondern ein sich aufmachen zu etwas Neuem, Besserem, das Verwandeln der Schwäche in Stärke.
Ein erster Hoffnungsschimmer wird am Schabbat vor dem 9. Aw, dem SCHABBAT CHASON, dem Schabbat der Vision sichtbar. Traditionellerweise ist die Haftara für diesen Schabbat aus dem Buch des Propheten Jeschajahu 1,1-27. Hier erhalten wir neben einer exakten Zustandsbeschreibung eine Vision:
Die Vision Jesajas - Wascht euch, reinigt euch; schafft die Schlechtigkeit eurer Handlungen mir aus den Augen, lasst ab vom Übeltun!Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Bedrückten; schafft Recht der Waise, führt der Witwe Sache! - Wenn eure Sünden wie Scharlach sind, wie Schnee sollen sie weiß werden; wenn sie rot sind wie Karmesin, wie Wolle sollen sie werden. Wenn ihr willig seid und hört, so sollt ihr das Gute des Landes essen. - Darum spricht der Herrscher, der Ewige der Heerscharen, der Mächtige Israels: Ha! ich werde mich rächen an meinen Widersachern und Rache nehmen an meinen Feinden. Und ich werde meine Hand gegen dich wenden, und werde deine Schlacken ausschmelzen wie mit Laugensalz und hinwegschaffen all dein Blei. Und ich werde deine Richter wiederherstellen wie zuerst, und deine Räte wie im Anfang. Danach wird man dich nennen: Stadt der Gerechtigkeit, treue Stadt. Zion wird erlöst werden durch Gericht, und seine Rückkehrenden durch Gerechtigkeit. (Auszüge aus Jeschajahu 1,1-27)
Diese Vision fordert nicht nur zur Umkehr auf, sondern gibt eine Antwort auf alle Fragen. Hier zeigt G-tt durch den Propheten die Zeit des dritten Tempels, eine Welt in Frieden und Gerechtigkeit, ein Vorgeschmack auf die zukünftige Erlösung. Es wird klar, dass der tiefste Abstieg den höchsten Aufstieg beinhaltet. Das dies wirklich möglich ist, dafür bürgt der Maschiach, denn Er ist es, der es vollbringen wird.
„Vergessen ist Verbannung, Erinnerung ist Erlösung.“
Dieser Ausspruch des Baal Schem Tow beschreibt den Kern der Gestaltung des 9. Aws, des TISCHA BE-AW, denn das Nichtvergessen birgt die Zukunft in sich. Im Talmud erfahren wir, dass die Klage um Jeruschalajim den kommenden Jubel der Stadt mit einschließt. Und so ist der TISCHA BE-AW der Tag der tiefsten Trauer in höchster Konzentration. Die vergangenen drei Wochen der Furcht werden hier von jedem Einzelnen noch einmal wiederholt. Jeden trifft der unvorstellbare Schmerz der vollkommenen Zerstörung Jeruschalajims, der die Seele, ohne Trost und ohne Hoffnung erstarren lässt. Dieser Schmerz findet seinen Ausdruck im völligen Fasten. Vom Sonnenuntergang, dem Beginn des 9. Aw, bis zum Sonnenuntergang, also 24 Stunden, wird weder gegessen und getrunken, man trägt keine Lederschuhe, wäscht sich nicht, rasiert sich nicht, enthält sich der ehelichen Pflichten, studiert nicht die Thora (außer Klagelieder, Hiob, Teile von Jiremijahu), arbeitet nicht und sitzt auf niedrigen Schemeln. Auch verzichtet man auf das Anziehen von Tallit und das Anlegen von Tefillin. Man trifft sich in der Synagoge, um gemeinsam des schrecklichen Ereignisses zu gedenken. Die Synagoge ist dunkel und dunkel sind auch die Melodien der Klagelieder des Jerimejahu. Dunkelheit hat sich auch der Seele der Anwesenden bemächtigt:
„Auch wenn ich wehklage und schreie, - zugestopft ist mein Gebet.“ (Klagelieder 3,8)
Die Gegenwart G-ttes ist gewichen:
„Der Herr ist wie ein Feind geworden, er hat Israel zerstört, vernichtet alle ihre Paläste, zerstörte seine Festen und vermehrte bei der Tochter Juda Seufzen und Stöhnen.“ (Klagelieder 2,5)
Langsam löst sich die Erstarrung, die Gebete haben die Trauernden befähigt ihre Situation zu akzeptieren und damit kommt ein neuer Fokus, der Wunsch den Mangel zu beseitigen, den Trost und die Ermutigung, die in diesem Tag eingeschlossen sind in Anspruch zu nehmen. Und so ist man am Nachmittag, vor dem Minchagebet in der Lage das Gebot von Tallit und Teffilin zu erfüllen. Und damit kommt es zum Umschwung, zum Aufbruch, denn man weiß, dass G-tt aus diesem Trauertag einst einen Freudentag machen wird. Wie es heißt:
„... und ich wandle ihre Trauer in Wonne und tröste sie und erfreue sie nach ihrem Kummer.“ Jerimijahu 31,12)
Und so geht der Trauertag in einen Festtag über. Die Gewissheit, dass der Maschiach kommen wird, um alles völlig wiederherzustellen, siegt.