Paraschat “Mikez“ Empfehlung

12. Dezember 2020 geschrieben von   Channa Rachel Freigegeben in Miketz

ב"ה

Paraschat “Mikez“

Auszug aus: Studien zu den wöchentlichen Tora-Vorlesungen, von Nechama Leibowitz

Josefs Traumdeutung

Rabbi Isaak Arama und Don Isaak Abarbanel fragen gleichermaßen, wie es möglich war,
dass Josefs Deutung von Paros Träumen “gefiel in den Augen Paros und in den Augen all
seiner Diener“ (Bereschit 41:37) und warum Josef umgehend ins Amt des Vizekönigs
erhoben wurde, da doch gar nicht erwiesen war, dass seine Traumdeutung überhaupt
zutreffend war. Die dahinterstehende Kernfrage lautet, welches Kriterium für die
Wahrheitsfindung wesentlich ist. Die Frage spitzt sich noch zu, wenn wir aus dem Midrasch
Rabba (89:7) vernehmen, dass auch Paros Traumdeuter durchaus eine Deutung für die
beiden Träume hatten und Paro sie nicht akzeptierte. Die Magier Paros, so erzählt der
Midrasch, deuteten den ersten Traum (mit den sieben fetten und den sieben mageren
Kühen) so, dass Paro noch sieben Söhne zeugen und sieben Söhne begraben würde, im
zweiten Traum (mit den sieben vollen und den sieben verbrannten Ähren) sahen sie die
Eroberung von sieben Ländern und den Aufstand von sieben Ländern angedeutet. In der
Tora heißt es: „Und es gab niemanden, der sie dem Paro deutete“ (Bereschit 41:8), was
darauf schließen lässt, dass es im Prinzip Deutungen gab, die aber eben vom König selbst
nicht akzeptiert wurden, weil sie ihm nicht einleuchtend erschienen. Da Paro also mit
mehreren Deutungen konfrontiert wurde, fragt sich nicht nur, wie er die Josefs als wahr,
sondern auch, wie er die anderen als falsch erkannte. Ein Hinweis darauf könnte sein, dass
Josef beide Träume als einen einzigen Traum deutete. Paro sah sie auch so. Als er nach
dem zweiten Traum ein zweites Mal erwacht, heißt es: “Und siehe, es war ein Traum"
(41:7), was nach dem ersten Traum noch nicht stand, womit sich Paros Wahrnehmung
beider Träume als die eines einzigen erstreckt. Auch leitete Paro seine Schilderung der
beiden Träume gegenüber Josef so ein: “Einen Traum träumte ich, und einen, der ihn
erklärt, gibt es nicht“ (41:15). Dass die Chartumäer die Einheit der beiden Träume nicht
nachvollziehen, geht aus dem Wechsel von Singular zu Plural in Satz 41:8 hervor: “Und er
erzählte ihnen seinen Traum, und es gab niemanden, der sie dem Paro deutete.“ In diesem
unterschiedlichen Zugang Josefs und der Magier sieht Abarbanel den entscheidenden
Faktor, der Paro dem Josef glauben ließ und ihnen nicht.

Doch daraus geht noch nicht hervor, nach welchem Kriterium entscheidbar war, dass
Josefs Deutung tatsächlich die wahre war. Rabbi Schmuel David Luzatto meint, Paro habe
erkannt, dass ihm die Träume geschickt wurden, nicht nur, um die Zukunft zu kennen,
sondern um auch Maßnahmen zu treffen. Der richtige Deuter musste deshalb aus seiner
Sicht jemand sein, der nicht nur irgendeine Deutung aussprach, da jeder irgendeine
Deutung erfinden kann, sondern jemand, der die Träume dazu benützte, um auf das darin
Angekündigte (was offensichtlich etwas Negatives war) zu reagieren. Der späte Midrasch
Sechel Tov stützt diesen Zugang, indem er hervorhebt, dass eben auch die Diener Paros
Josefs Deutung guthießen, weil in seiner Lösung der Vorratsspeicherung das Wohl nicht
nur des Königs, sondern des ganzen Volkes vorgebildet war.

Doch lassen sich Menschen vom Nützlichkeitseffekt allein schon überzeugen? Als die
Könige Ahab und Jehoschaphat gemeinsam in den Krieg ziehen wollen und vierhundert
Propheten dem kriegswilligen Ahab zurufen: „Geh hinauf, und Gʻtt wird es in die Hand des
Königs geben“, ist, ganz unabhängig von ihrer Voraussage, Jehoschaphat der Sache nicht
sicher und fragt (noch bevor er beweisen kann, dass diese Lügenpropheten sind) seinen
Bundesgenossen: „Ist hier nicht noch ein Prophet Gʻttes, von dem wir uns vortragen lassen
könnten?“ (Kön. I 22:6,7)

Woran also erkennt man wahre bzw. falsche Prophetie, und woran erkennt Paro die
Wahrheit von Josefs Deutungen? Der Midrasch HaGadol und der Midrasch Sechel Tov
geben darauf eine etwas mechanisch-äußerliche Antwort: Paro habe die Lösung geträumt
und wieder vergessen, sei durch Josefs Deutung aber wieder daran erinnert worden, dass
dies die wahre Lösung sei. Diese Midraschim scheinen im Toratext selbst keine Grundlage
zu besitzen, doch vielleicht muss man sie einfach gemäß der Erklärung des Abarbanel
lesen. Nach Abarbanel “fühlt“ Paro während des Traumes dessen Bedeutung wie einen
Kern in der Schale, doch beim Erwachen bleibt ihm nur die äußerer Erscheinung im
Gedächtnis, die damit während des Traumes verbundene Ahnung verfliegt. Die Deutung
schält somit gewissermaßen den Kern frei, sie erinnert Paro an das, was er selbst schon
einmal empfunden hat. Nicht eine äußere Deutung, die er gewissermaßen “mitgeträumt“
hat, ruft ihm Josef zurück, sondern das Zeugnis seines eigenen Herzens wird durch dessen
Erklärung wiedererweckt.

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