Paraschat MIKEZ
aus:
Belebende Parascha
Thora-Deutungen des Lubawitscher Rebben für die Gegenwart
von Rabbiner Benjamin Sufiev
Fruchtbare Galut
Schon über 2000 Jahre befindet sich das jüdische Volk in der Galut. Viel Leid musste
es durchmachen ... und die immerwährende Frage, die sich stellt, ist: wozu muss das
jüdische Volk so viel durchmachen?
Eine Antwort dazu finden wir in unserem Wochenabschnitt. Josef nannte seinen
zweiten Sohn Efraim, mit der Begründung: „Denn fruchtbar machte mich G‘tt im Lande
meines Elends“ (Bereschit 41:52 - „Efraim“ und „fruchtbar“ haben im Hebräischen
denselben Wortstamm). Gerade durch die Galut „im Lande meines Elends“ erlangte Josef
einen intensiven Aufstieg in seinem Leben („fruchtbar“). Und darin liegt der Sinn der Galut:
in diesen schweren Zeiten seine innersten Kräfte zu erwecken, zu reifen und aufzusteigen.
Josef an sich stand schon auf einem sehr hohen Niveau, höher als seine Brüder und in
gewisser Weise sogar höher als sein Vater. Um jedoch sein Potential richtig auszuschöpfen
und noch höher zu steigen, musste er die Galut in Mizraim durchleben.
Unbekannte Größe
Die seelische Überlegenheit Josefs gegenüber seinen Brüdern wird in folgendem Vers
angedeutet: Und Josef erkannte seine Brüder, doch sie erkannten ihn nicht (Bereschit
42:8). Die Lehre der Chassidut bezieht diesen Vers darauf, dass seine Brüder nicht einmal
eine Vorstellung von der seelischen Größe Josefs hatten - „sie erkannten ihn (sein
seelisches Niveau) nicht“.
Die Brüder Josefs waren ehrliche G‘ttesdiener und strebten danach, G‘tt anzuhangen.
Ihnen war bewusst, dass sie dafür der Weltlichkeit entsagen mussten. Deshalb
entschieden sie sich, Schafhirten zu sein; weit weg auf den Weiden konnten sie seelische
Ruhe finden. Josef hingegen steckte Hals über Kopf im Zentrum der Weltlichkeit. Doch
obwohl er über ganz Ägypten regierte, verwirrte dies nicht seine Sinne und er blieb G‘tt
treu. Diese Fähigkeit, extrem weltlich und dennoch streng religiös zu sein, kannten die
Brüder Josefs nicht. Deshalb „erkannten sie ihn nicht“.
Gänzliches Vertrauen
Josefs Stufe war sogar höher als die seines Vaters Jaakow. Unsere Meister sagen (Raschi
zu Bereschit 40:23), dass Josef dafür bestraft wurde, weil er auf die Hilfe eines Menschen
hoffte (den Mundschenk), als er ihn darum bat, dem Par‘o von ihm zu erzählen. Seine
Strafe war, dass „der Mundschenk Josefs nicht gedachte und ihn vergaß“ (Bereschit
40:23). Denn für einen Zaddik gilt es als Sünde, auf die Hilfe von Menschen zu hoffen, da
er all sein Vertrauen in G‘tt zu legen hat.
Doch die Thora erzählt auch über Jaakow, dass er die Gunst seines Bruders suchte,
als er ihm Geschenke sandte und ihn sogar „mein Herr“ nannte (Bereschit 32:14-19). Und
nirgends in den Schriften wird dies Jaakow als Sünde angerechnet!
Darin liegt der Unterschied zwischen Josef und Jaakow: Jaakow war in gewisser
Weise an die Normen der Welt gebunden und musste deshalb auch auf natürlichem Weg
(wie es eben die Normen der Welt verlangen) Lösungen finden. Doch Josefs Stufe war um
vieles höher. Er stand gänzlich über den Normen der Welt und sollte deshalb all sein
Vertrauen G‘tt geben, ohne einen natürlichen Weg (den Mundschenk um Hilfe zu bitten)
versuchen zu müssen.
Das Geheimnis der Galut
Und obwohl Josef auf einer solch hohen Stufe stand, erreichte er seine wahre geistliche
Größe gerade in der Galut: Denn fruchtbar machte mich G‘tt im Lande meines Elends.
Darin eben liegt das Geheimnis der Galut - nur dadurch kann man sein wahres, seelisches
Potential ausschöpfen und einen Aufstieg erleben, der sonst nicht möglich wäre!
Josef ebnete den Weg für das gesamte jüdische Volk. Durch seine persönliche Galut
kam es zur Sklaverei in Ägypten und nur durch diesen tiefen Abstieg erlangte schließlich
das jüdische Volk die wunderliche Freiheit und erhielt die Thora. So verhält es sich auch
mit der Galut, in der wir uns bis heute befinden. Nur durch diesen großen Abstieg erhalten
wir „den Schwung“ für einen noch höheren Aufstieg; und das ist die vollkommene Erlösung
mit all ihren Wundern und g‘ttlichen Offenbarungen.
(Likutej Sichot, Band 1, Seite 88)