Paraschat "KEDOSCHIM" Empfehlung

01. Mai 2022 geschrieben von   Channa Rachel Freigegeben in Kedoschim

ב"ה

 Auszug aus: Zeitlos aktuell - Gedanken zum Wochenabschnitt, von Dr. Zwi Braun

Nächstenliebe

Räche dich nicht und grolle nicht den Söhnen deines Volkes und liebe deines Nächsten
Wohl wie deines, Ich bin der Ewige“ (Wajikra 19:18).

Bewusst übersetzt Rabbiner Samson Raphael Hirsch hier nicht mit “Liebe deinen Nächsten
wie dich selbst“, wie dieser berühmte Vers der Tora oft wiedergegeben wird. Hirsch kann
sich auf Ramban berufen, der in seinem Kommentar uns darauf aufmerksam macht, dass
die Tora im Hebräischen nicht formuliert “et Reʻacha“ (deinen Nächsten), sondern
leReacha“ (für deinen Nächsten). Das Wörtchen “et“ wird in der Regel einem
Akkusativobjekt vorangestellt, während die Vorsilbe “le“ den Dativ wiedergibt. Daher
kommentiert Hirsch zu Recht:

"“LeReacha“ ist daher nicht die Persönlichkeit des Nebenmenschen, sondern sind alle
die Verhältnisse, das Wohl und das Weh, die seine Lebensstellung auf Erden gestalten.
Dies, sein Wohl und Weh, sollen wir lieben, wie das eigene, sollen uns freuen mit seinem
Glück wie mit dem eigenen, sollen uns betrüben mit seinem Leid, als hätte es uns
getroffen, sollen mit derselben Freudigkeit zu seinem Wohl beitragen, als gälte es das
eigene Wohl, sollen Leid von ihm abwenden, als wären wir selber davon bedroht. Das ist
eine Forderung, die wir selbst in Beziehung auf den uns im höchsten Grade antipathisch
widerstehenden Menschen erfüllen können, erfüllen sollen. Denn diese Liebesforderung
sieht völlig ab von der Persönlichkeit des Nebenmenschen, gründet sich auf keine seiner
Eigentümlichkeiten, sondern ʻIch, Gʻttʻ heißt das Motiv dieser Forderung, im Namen Gʻttes
wird sie von uns für alle unsere Mitmenschen erwartet.“

Was die Tora hier positiv formuliert, hat der Mischnagelehrte Hillel verneinend
ausgedrückt, als er einem Nichtjuden das wichtigste Prinzip des Judentums kurz und
bündig mitteilte:

“Was dir verhasst ist, tue deinem Nächsten nicht an. Dies ist das ganze Gesetz, alles
andere ist nur eine Erläuterung, nun gehe und lerne“ (Schabbat 31a).

Originell ist, wie Raw Jakow Zwi Meklenburg das “kamocha“ (wie deines) interpretiert.
Er verweist auf einen Vers in Tehillim: “ ... nach Dir dürstet meine Seele, nach dir sehnt sich
mein Körper ...“ (63:2). Er liest unseren Passuk so: “Liebe deinen Nächsten, so wie du es
für dich ersehnst (kamocha)“. Eine weitere Lesart geht auf den Baal Schem Tov, den
Begründer der chassidischen Lehre, zurück: “Liebe deinen Nächsten - so wie du es tust
(kamocha) - so verhalte ich Mich, sagt Gʻtt (Ani Haschem)“. In dem Maße, in dem wir dem
Mitmenschen Gutes tun, lässt Gʻtt auch uns Gutes zukommen. Rabbi Levi Jizchak von
Berditschew hält dazu fest, dass, so wie wir uns mit all unseren Fehlern selbst akzeptieren,
wir auch den anderen mit seinen Mängeln akzeptieren müssen. Seine Unvollkommenheit
darf uns nicht vom korrekten Verhalten ihm gegenüber abhalten.

Rabbi Mosche Leib von Sasow lernte die wahre Bedeutung der Nächstenliebe aus
einer Unterhaltung zweier betrunkener Bauern. “Sag mir, liebst du mich oder nicht?“ fragte
der eine. “Ich liebe dich sehr!“ antwortete der andere. “Dann sag mir, was mir fehlt!“ sagte
der Erste. „Wie kann ich wissen, was dir fehlt?“ antwortete der Zweite. “Wenn du nicht
fühlst, was mir fehlt, wie kannst du dann behaupten, dass du mich liebst?“ lautete die
Antwort.

Rabbi Awraham von Trisk verweist auf den Zahlenwert des hebräischen Wortes für
Liebe, Ahawa, der 13 beträgt. Wenn zwei Menschen sich gegenseitig Liebe
entgegenbringen, erhalten wir den doppelten Wert: 26. Genau dies ist der Zahlenwert des
Gʻttesnamens in unserem Vers! Gʻtt ist der Dritte im Bunde. Rabbi Mosche Jechiel Halevi
Epstein von Osarow erwähnt in seinem zehnbändigen Kommentar zur ToraBeʻer Mosche
eine erstaunliche Gematrija. Der Zahlenwert der Worte “Liebe deines Nächsten Wohl wie
deines, Ich bin der Ewige - weʻahawta leʻreacha kamocha, Ani Haschem“ entspricht
demjenigen der Worte des Kriat Schma “Und du sollst deinen Gʻtt lieben - weʻahawta et
Haschem Elokecha“ (Dewarim 6:5). Die Liebe zu Gʻtt muss der Liebe zum Mitmenschen
entsprechen und umgekehrt.