Paraschat “WAʻERA“
aus:
Belebende Parascha
Thora-Deutungen des Lubawitscher Rebben für die Gegenwart
von Rabbiner Benjamin Sufiev
Band II
Grenzen überwinden
Der Midrasch führt bezüglich den Plagen, die G‘tt über Ägypten gebracht hat, eine
Streitfrage zwischen den Thoragelehrten an: „Rabbi Elieser sagt: Jede Plage beinhaltete in
sich vier Plagen; Rabbi Akiwa sagt: Jede Plage beinhaltete in sich fünf Plagen (Midrasch
Tehilim, Mismor 78).“
Den Kommentatoren (z.B. Raschbaz, Abschnitt „Chamez“) zufolge ging es bei der
Streitfrage nicht darum, wieviele Plagen es an der Zahl waren (denn es waren nur zehn
Plagen), sondern wie tief die Plagen gingen. Jede Materie besteht aus den vier
Grundelementen - Feuer, Wasser, Luft und Erde. Doch es gibt auch den Urstoff, der über
dieser Unterteilung von Elementen steht.
Darin liegt die im Midrasch angeführte Streitfrage: „Laut Rabbi Elieser schlugen die
Plagen in allen vier Elementen in Ägypten ein; doch Rabbi Akiwa zufolge gingen sie sogar
bis zum Urstoff, und deshalb „beinhaltete jede Plage fünf Plagen“.
Inneres Ägypten
Unsere Meister lehren: „In jeder Generation muss der Mensch sich sehen, als würde er
aus Ägypten ausziehen (Talmud P‘sachim 116b).“ Die Lehre der Chassidut macht darauf
aufmerksam, dass das Wort מצרים (Ägypten) auch die Bedeutung von מיצר (Enge und
Begrenztheit) trägt (Tora Or 57b). „Ägypten“ symbolisiert also alle (innerlichen) Grenzen,
die einen Juden dabei stören, G‘tt ordnungsgemäß zu dienen. Unsere Meister bringen uns
somit bei, dass man ständig „aus einem Ägypten“ ausziehen muss - sich aus seinem
inneren Gefängnis zu befreien hat.
Durch die zehn Plagen erlangte das Volk die Freiheit aus Ägypten, somit helfen uns
die „Plagen“ auch aus unserem inneren Ägypten auszuziehen. Deshalb liegt es an uns, die
Streitfrage zwischen Rabbi Elieser und Rabbi Akiwa, wie tief die Plagen gingen, auf
unseren G‘ttesdienst zu übertragen. So wie jede Materie vier Elemente beinhaltet, gibt es
im G‘ttesdienst auch vier Bereiche (Igeret haT‘schuwa, Kapitel 4):
1) die Tat - das Erfüllen der praktischen Mitzwot
2) die Gefühle - die Liebe und Ehrfurcht zu G‘tt
3) der Verstand - Erkenntnis in G‘tt und Seine Größe
4) der Glaube, aus dem wahre Hingabe zu G‘tt entspringt.
Tief in der Seele
Um sein inneres Gefängnis zu sprengen, müssen diese Bereiche von dem Jezer Hara
befreit werden.
Rabbi Elieser sagt, dass es vier Bereiche sind, die es zu schlagen gibt: Zuerst muss
der Jezer Hara bekämpft werden, der uns daran hindern möchte, die praktischen Mitzwot
zu erfüllen. Dann muss man das Schamgefühl überwinden, was andere über uns denken,
wenn wir in den Wegen G‘ttes gehen. Darauf folgt die Überwindung jener menschlichen
Grenze, die alles zu verstehen versucht und mit der Rationalität analysiert. Und schließlich
muss auch tief in die Seele eingedrungen werden, um jegliches Eigeninteresse zu
beseitigen, welches sich in unserem Glauben und unserer Hingabe zu G‘tt eingeschlichen
haben könnte.
Jezer Hara - wo ist er nicht?!
In einfachen Worten heißt das: Es reicht nicht, dass wir Thora lernen und Mitzwot
erfüllen. Auch in unserem Inneren müssen wir uns von dem Jezer Hara befreien. Unser
Herz muss G‘tt gehören, rein von Eigeninteressen und fremden Begierden. Unser Verstand
soll von der Thoralehre und der Erkenntnis über G‘tt gefüllt sein, rein von sündhaften
Gedanken.
Doch der rationale Verstand ist von Natur aus kalt und dies könnte die Begeisterung im
Dienst zu G‘tt abkühlen. Deshalb darf der Glaube nicht auf dem Verstand fundieren, und
auch die Grenzen des Verstandes und tiefere Schichten der Seele, in die sich der Jezer
Hara reingeschlichen haben könnte, müssen überwunden werden. So zieht man wirklich
aus seinem Ägypten aus und erlangt echte Freiheit!
(Likutej Sichot, Band 16, Seite 87)