Paraschat “Mikez“ Empfehlung

28. November 2021 geschrieben von   Channa Rachel Freigegeben in Miketz

ב"ה

Paraschat “Mikez“ מקץ

Auszug aus: “Studien zu den wöchentlichen Torah-Vorlesungen“ von Nechama Leibowitz

Und Josef erkannte seine Brüder und sie erkannten ihn nicht. Da erinnerte sich Josef
seiner Träume, die er von ihnen geträumt hatte, und er sagte ihnen: Ihr seid Spione! Die
Blöße des Landes zu sehen, seid ihr gekommen (Bereschit 42:8-9).“

Rabbi Isaak Abarbanel gibt die Fragestellung vieler Kommentatoren vor ihm wieder,
wenn er anmerkt, dass hier doch offenbar Josef auf die Taten seiner Brüder nach zwanzig
Jahren “mit Rache“ reagiert, zudem angesichts der herrschenden Hungersnot, der die
ganze Familie unterworfen ist, und in dem Gedanken an den Vater, der voller Sorgen
zurückgeblieben sein muss. „Wie kommt es, dass er (Josef) sich seiner (Jaakows) nicht
erbarmte und dessen Schmerz durch die Inhaftierung Schimons noch vermehrte?“ Schon
die Brüder, die sich selbst einer bitteren Strafe würdig fanden, haben sich nach dem Tode
Jaakows vor Josefs Rache gefürchtet, doch er sagte ihnen zweimal, sie sollten sich nicht
fürchten, “denn bin ich an Gʻttes Stelle?!“ Und: “Habt ihr mir Schlechtes zugedacht, Gʻtt
dachte es zum Guten (Bereschit 50:19,20).“ Wer aber so spricht, wer vor den Brüdern
mehr als einmal mit den Tränen ringt und sich nicht zurückhalten kann, sondern vor lauter
Erregung den Raum verlassen muss, ist nicht von Gedanken der Rache bestimmt.

Wenn wir den Text der Torah genau lesen, erkennen wir, dass Josef dort ebenfalls
nicht als Rächender dargestellt wird. Auch wenn der Grund der Verstellung nicht genannt
wird, deutet die Torah dennoch Josefs Gedankengänge und seinen Seelenzustand zu
Beginn der Verstellung an. Als Josefs Erinnerungen zur Sprache kommen, gehen diese
nicht etwa zu jenem Erlebnis, als die Brüder ihn in die Grube warfen und sein Flehen nicht
erhörten, sondern er gedenkt der “Träume, die er geträumt hatte“. Nachmanides und
andere gelangen dadurch zur Auffassung, dass Josef sich bei seinem Handeln als von der
Vorsehung erwählt ansah, Oberhaupt und Versorger der Brüder und seiner ganzen Familie
zu werden, und dass für ihn hier die Auflösung seiner Träume aus der Jugendzeit liegt, als
einmal die Ähren aller Brüder sich vor seinen Ähren, ein anderes Mal Mond, Sonne und elf
Sterne sich vor ihm verbeugten. Damit folgt sein Handeln einem Anerkennen äußerer
Bestimmung. Nachmanides zufolge hat Josef angesichts der vor ihm knieenden Brüder
realisiert, dass noch keiner seiner Träume damit in Erfüllung gegangen war, weil sich im
Ährentraum die Ähren aller Brüder und im anderen Traum Sonne, Mond und elf Sterne vor
ihm verneigen, dass also Benjamin im Gegensatz zum Traum fehlte. Deshalb hatte er sich
zu verstellen, um den ersten Traum in die Realität umzusetzen und Benjamin zu den
Brüdern zu bringen, bevor er Jaakow holen lassen und so auch den zweiten Traum
verwirklichen konnte. Wäre es nicht so, dann würde Josefs Handeln auch Nachmanides
zufolge eine schwere Sünde gegen den Vater bedeuten. Entsprechend müsste das ganze
Verhalten Josefs, der jahrelang schon als ägyptischer Fürst seinem Vater keine Nachricht
geschickt hatte, aus seinen Fähigkeiten als Traumdeuter heraus verstanden werden. Josef
hoffte auf die Verwirklichung seiner Träume. Natürlich meint Nachmanides nicht, dass es
Josef um seine Träume als solche ging, sondern vielmehr um die damit verbundene
Aufgabe, die Familie zu ernähren. Der Einwand von Rabbi Isaak Arama (Akedat Jizchak)
gegen Nachmanides, dass nicht der Mensch, sondern nur Gʻtt, der die Träume gibt, auch
deren Lösung bringt, lassen sich durch etliche Stellen in der Bibel widerlegen. So wartet
Gidʻon, als er von einem Traum und dessen Deutung hört, er würde Midjan überwältigen,
nicht auf dessen Erfüllung, sondern versammelte sogleich seine Leute (Schoftim 7:13) ...

Die Schwäche von Nachmanides Argumentation liegt anderswo, nämlich in der Frage,
ob Josef nicht auch ohne Schmerz, den er ihnen und dem Vater zufügte, zur Verwirklichung
seiner Träume hätte gelangen können. Deshalb scheint eine andere Meinung einsichtiger:
Das Problem der vollkommenen Rückkehr (Tʻschuwa), die allen dem schuldbeladenen
Haus Jaakows die Auserwählung bringen kann. Maimonides bezeichnet (in Anlehnung an
das Traktat Joma 86b) in den “Hilchot Tʻschuwa“ als “vollkommene Tʻschuwa“ ein
Widerstehen der Person aus eigenem Antrieb bei einer Wiederkehr derselben Situation, in
der sie einst sündigte. Für Josefs Brüder ist eine solche Art der Tʻschuwa an ihm nicht
mehr zu vollziehen - auch wenn sie ihm jetzt freundlich begegnen, nun, da er der Zweite im
Staate Ägypten ist, der sie zudem noch ernährt, haben sie keine Wahl. So kreiert Josef die
Situation der Tʻschuwa, indem er Benjamin, wie er ein Sohn Rachels, der Jüngste der
Söhne, ein Liebling des Vaters wie er einst, in Bedrängnis bringt und festnehmen lässt.
Diesmal ist die Position der Brüder viel schwieriger, denn nicht sie entscheiden über Wohl
und Wehe Benjamins, sondern das ägyptische Reich. Da die Brüder sich in dieser Situation
weigern, ohne Benjamin nach Hause zu gehen, wo sie sich dem Vater gegenüber auf ihre
Machtlosigkeit berufen könnten, da sie entschlossen sind, nicht ein zweites Mal ohne einen
Sohn Rachels vor Jaakow zu treten, sondern ihr Leben oder ihre Freiheit für Benjamin
hingeben würden, wozu Jehuda sich Josef gegenüber bereit erklärt (Bereschit 44:33) - ist
die vollkommene Tʻschuwa geleistet - und Josef kann sich zu erkennen geben.