Paraschat “Dewarim“ דברים
aus: “Studien zu den wöchentlichen Torah-Vorlesungen“ von Nechama Leibowitz
Dem Frieden nachjagen
Bei seinen Erläuterungen zu den Opfern kommt Maimonides im “Führer der Verirrten“
darauf zu sprechen, weshalb die gʻttliche Vorsehung den Eintritt Israels ins Land vierzig
Jahre lang hinausgeschoben hat. Eine Sklavengeneration, so argumentiert er, sei nicht
imstande gewesen, den Kampf mit den teils furchterregenden Bewohnern Kenaans
aufzunehmen. Es hätte einerseits der läuternden körperlich stählenden Wüstenerfahrung
bedurft, andererseits der Geburt einer Generation, die die Knechtschaft und Demütigung
Mizrajims nicht mehr kannte, um den notwendigen Heldenmut in Israel hervorzubringen. In
Bamidbar, in der Sidra “Schlach Lecha“ wird beim Ereignis mit den Kundschaftern
deutlich, wie sehr die Generation der Ausziehenden noch von Furcht geprägt war. An
dieses Ereignis, an die Bitte der damaligen Generation, Kundschafter zu schicken (was
gemäß Nachmanides bereits das vorweggenommene vorläufige Scheitern des Einzugs
war), erinnert Mosche zu Anfang des Buches Dewarim achtunddreißig Jahre später die
neue Generation. Schon gegen Ende des Buches Bamidbar (26:64, 65) steht, dass von
der alten Generation, ausgenommen Jehoschua und Kaleb, alle während der
Wüstenwanderung gestorben waren.
Von der Furchtsamkeit dieser alten, selbst noch aus der Sklaverei befreiten, sich den
Völkern im Lande unterlegen fühlenden Generation, wie wir sie nach dem Bericht der
Kundschafter im 13. Kapitel des Buches Bamidbar erleben, ist nun nichts mehr zu spüren.
Vielmehr besteht die Herausforderung darin, die neue, starke Generation in ihrem Drang,
sich mit dem Schwächeren anlegen zu wollen, zurückzuhalten: “Ihr überquert die Grenze
der Brüder, der Söhne Esaws, die in Seʻir sitzen, sie werden euch fürchten, nehmt euch
sehr in acht! Reizt sie nicht, denn Ich werde euch von ihrem Land nicht einmal die Fläche
geben, die eine Fußsohle betritt. Essen sollt ihr von ihnen für Geld kaufen, und auch
Wasser sollt ihr von ihnen für Geld erlangen, damit ihr trinkt. Denn der Ewige dein Gʻtt hat
dich in allem Werk deiner Hände gesegnet, hat deinen Gang durch diese große Wüste
gekannt; vierzig Jahre sind es nun, dass der Ewige dein Gʻtt, mit dir war, es hat dir an
nichts gemangelt (Dewarim 2: 4-7)“.
Raschi erklärt, die Aufforderung “nehmt euch sehr in acht“ beziehe sich darauf, die
Nachkommen Esaws nicht zu reizen. Es ist also nicht die Abwehrhaltung des
Schwächeren, der sich vor dem Stärkeren in acht nehmen soll, sondern der Starke wird
gemahnt, sich vor seiner eigenen Kraft, seinem eigenen Herrschaftstrieb gegenüber dem
Schwächeren zu hüten. Diese Forderung zur Selbstzügelung kommt im Befehl zum
Tragen, sich nichts widerrechtlich anzueignen und für alle Verpflegung zu bezahlen.
Dreimal ergehen innerhalb des 2. Kapitels Forderungen dieser Art an Israel: In Bezug auf
die Kinder Esaws, auf die Moabiter und auf die Ammoniter. Erst als sie zum Land des
Emoriterkönigs Sichon kommen, wird ihnen die Erlaubnis gegeben, mit der Eroberung zu
beginnen. „Erhebt euch, brecht auf und überquert den Fluss Arnon, siehe, Ich habe
Sichon, den König von Cheschbon, den Emoriter und sein Land in deine Hand gegeben.
Fange die Besitznahme an und fordere ihn zum Krieg heraus“ (Dewarim 2:24).
Doch hier geschieht etwas Überraschendes. Mosche, der an der Spitze des Volkes
geht, der sie nach Gʻttes Wort herausgeführt und ans Land herangeführt hat und jetzt
Gʻttes Befehl vernommen hat, einen Krieg vom Zaun zu brechen - was tut er? Er schickt
Boten zu Sichon und verlangt nur ein Durchzugsrecht durch dessen Land, verspricht auch,
nicht vom Weg abzuweichen und (wie Gʻtt es bei den anderen Völkern befohlen hatte) für
alle Nahrung Geld zu bezahlen.
Abarbanel hat die sich aus diesem Verhalten ergebenden Probleme klar formuliert:
Wäre Sichon nämlich (was er nicht tat) auf Mosches Angebot eingegangen, hätte Mosche
entweder aufhören müssen, ihn zu bekriegen (was einem Zuwiderhandeln gegen Gʻttes
Befehl entsprochen hätte) oder trotz Sichons Friedensbereitschaft aus Gehorsam gegen
Gʻtt gegen Sichon kämpfen müssen, was Mosche hätte unglaubwürdig erscheinen lassen.
Nachmanides versucht, die Frage zu klären, indem er die Chronologie der Geschichte
umstellt und angibt, Mosche hätte die Boten schon früher zu Sichon geschickt, denn nach
dem gʻttlichen Befehl, Krieg zu beginnen, hätte er dies ja keinesfalls mehr tun können.
Weshalb die Torah das hier getan haben soll, ist problematisch. Insbesondere hier, wo
zuvor bei drei Königen Gʻtt befohlen und anschließend Mosche gehandelt hat - weshalb
soll im vierten Fall plötzlich Mosche vor Gʻttes Befehl gehandelt haben?
Auch Neziw kann sich mit Nachmanides Erklärung nicht zufrieden geben. Er sieht
Gʻttes Aufforderung, mit Sichon Krieg zu führen, nicht als sofort auszuführenden Befehl an,
sondern als Anleitung für eine feindliche Situation, die sich zwischen beiden ergeben
könnte. Es wäre sogar für Israel besser gewesen, meint Neziw, Sichon hätte das
Durchmarschrecht garantiert, dann hätten die Eroberungen erst jenseits des Jarden
angefangen, die Stämme Reuven und Gad hätten auf seinem Gebiet nicht gesiedelt und
wären später nicht ins Exil getrieben worden. Viel Schlechtes, so Neziw, wäre Israel dann
erspart geblieben.
Doch auch diese Erklärung, Gʻttes Befehl zum Krieg in eine Erlaubnis zum Krieg zu
verwandeln, scheint dem einfachen Wortsinn des Verses nicht zu entsprechen. Am
einleuchtendsten erscheint deshalb die Erklärung des Midrasch Tanchuma, die mit
Verweis auf die Worte “Erbitte den Frieden und jage ihm nach“ (Tehillim 34:15) erklärt,
Gebote würden grundsätzlich erst dann aktuell, wenn die entsprechende Situation eintrete,
nur der Friede müsse vom Menschen aus eigener Initiative angestrebt werden. Diese
Pflicht, dem Frieden nachzulaufen, habe deshalb auch Mosche noch über den gʻttlichen
Befehl gestellt, einen Krieg mit Sichon zu provozieren. Der Umstand, dass der Eintritt in
das von Gʻtt gegebene Land mit friedlichen Mitteln vonstatten ging und danach, bei Sichon,
durch Mosche zumindest ein friedlicher Weg der Einigung gesucht wurde, kann in seiner
Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden.