Paraschat “KI TAWO“ Empfehlung

16. August 2020 geschrieben von   Channa Rachel Freigegeben in Ki Tawo

ב"ה

Paraschat “KI TAWO“

Auszug aus: Studien zu den wöchentlichen Tora-Vorlesungen, von Nechama
Leibowitz

“Und Gʻtt gab euch nicht ein Herz zu erkennen ...“

Nach Mosches eindringlicher Ermahnung, Gʻttes Gesetz zu halten, und vor dem
Schließen eines neuen Bundes zwischen Gʻtt und dem Volk kurz vor Mosches Tod, heißt
es gegen Ende der Sidra Ki Tawo (Dewarim 29:1-3): “Und Mosche rief ganz Israel, und er
sagte ihnen: Ihr saht alles, was Gʻtt vor euren Augen in Ägypten tat, dem Parʻo und allen
seinen Dienern und seinem ganzen Land. Die großen Versuchungen, die deine Augen
sahen, diese großen Wunder und Zeichen. Und Gʻtt gab euch nicht ein Herz zu erkennen
und Augen zu sehen und Ohren zu hören bis zu diesem Tag.“

Nach der Meinung von Rabbi David Hoffmann sollen diese Verse deutlich machen,
weshalb Mosche das Volk nochmals ermahnt hat, nachdem - im Zusammenhang mit dem
am Sinai geschlossenen Bund - schon zu Beginn der Sidra Bechukotai Fluch und Segen
ausgesprochen worden sind. Vers 3, mit dem wir uns hier beschäftigen wollen (“Und Gʻtt
gab euch nicht ein Herz zu erkennen ...“), beantwortet dabei die Frage, weshalb überhaupt
ein neuer Bund notwendig geworden sei. Die Zeichen und Wunder in Mizrajim haben das
Volk nicht zur gewünschten Erkenntnis gebracht. Erst die vierzig Jahre Umherwanderns in
der Wüste, Gʻttes dort vollbrachte Wunder und zuletzt die Eroberung des östlichen
Jordanufers haben die Herzen dem rechten Verständnis zugewandt. Deshalb besteht nun
die Notwendigkeit eines neuen Bundes.

Dennoch bleibt Vers 3 schwer verständlich. Don Jizchak Abarbanel sieht die Verse 1-3
im Kontext der vorhergehenden Ermahnung. Unter Zitierung des Talmudspruchs “Alles ist
in der Hand des Himmels außer der Gʻttesfurcht“ (Berachot 33b) zeigt er, dass alle die
Wunder, die das Volk erlebt und gesehen hat, es nicht empfänglich für einen unbedingten
Glauben gemacht haben, weil die innere Bereitschaft dafür fehlte. Er interpretiert deshalb
Vers 3 als rhetorische Frage: “Gab Gʻtt euch denn nicht ein Herz zu erkennen ...?!“ Es liegt,
so Abarbanel, nicht an der fehlenden Ausstattung der Menschen mit Sinnesorganen oder
klarem Verstand. Was fehlt, ist jener Wille, sich auf Gʻtt voll und ganz einzulassen, der nur
vom Menschen ausgehen kann.

Eine andere Interpretation geben Rabbi Abraham Ibn Esra und Rabbi Schmuel David
Luzatto. Ibn Esra kommentiert: “Denn von ihm kommt die erste Handlung (d.h. der erste
Grund)“. Luzatto führt diese Thematik klarer aus: Er bezieht sich auf die Erklärung
Nachmanides, dass nicht Gʻtt Parʻos Herz tatsächlich verhärtet, sondern dass Parʻo aus
eigenem Bewusstsein gehandelt habe. Doch sei dieses Handeln mit Gʻtt bzw. dem
göttlichen Plan in Beziehung gestanden, da Gʻtt “der erste Grund“ sei. Luzatto selbst
erweitert diese Erklärung: Wo es heiße, dass Gʻtt menschliche Handlung verursacht hat,
gehe es um Handlungen, die nach herkömmlichen Beurteilungskriterien nicht verständlich,
die aber vom entsprechenden Menschen selbst ausgegangen seien.

Rabbi Mosche Chefez aus Italien und später auch Rabbi Meir Simcha aus Dwinsk
(Litauen), der Verfasser des Meschech Chochma, geben eine Erklärung, mit Hinweis auf
die Schlusswendung ... “bis zu diesem Tag“. Rabbi Chefez weist darauf hin, dass Wunder
und Zeichen erst nachträglich als solche erkannt werden, denn während sie geschehen,
erachtet sie der Mensch als natürlich, gewöhnt sich daran und schätzt sie gering.
Entsprechend sagte Mosche dem Volk, es habe zwar viele Zeichen und Wunder erlebt,
aber bis zum heutigen Tage darauf reagiert, als ob es blind und taub wäre. Nach Meschech
Chochma spricht Mosche hier das Problem an, dass das Volk in vielen Fällen ihn und nicht
Gʻtt als Verursacher der Zeichen und Wunder gesehen hat. Nun, da sich sein Tod nähert,
wird das Volk erkennen, dass er ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. An diesem Tag, am
Todestag Moscheʻs, wird im Volk die Erkenntnis reifen, dass es Gʻtt und allein Gʻtt war, der
sie immer wieder aus der Not errettet hat.

Doch bleibt die Frage, was die seltsame Formulierung “Und Gʻtt gab euch nicht“ zu
bedeuten hat. Moscheʻs Worte müssen hier als Ironie verstanden werden, als Fazit dafür,
dass er in vierzigjähriger mühseliger Führerschaft die Haltung Israels nicht entscheidend
beeinflussen konnte. Denn Mosche weiß, dass jeder selbst für sein Verhalten
verantwortlich ist. Er selbst sagt ja (Dewarim 30:19), dass der Mensch selbst zwischen
Leben und Tod, Segen und Fluch zu entscheiden habe. Doch hier meint er ironisch: “Nicht
ihr seid schuld, es ist Gʻtt, der euch kein Herz zu verstehen gegeben hat, keine Augen zum
Sehen etc.“. Das heißt, Gʻtt hat alles aufgeboten, hat euch befreit, euch Wunder und
Zeichen gegeben, nur etwas hat Er unterlassen: Euch das Herz zu geben, dass ihr versteht
und würdigt, was Er euch gab.

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