Paraschat REʻEH ראה
„Siehe, Ich lege euch heute Segen und Fluch vor.
Den Segen, wenn ihr hört auf die Gebote des Ewigen, eures Gʻttes, die Ich euch heute
befehle. Und den Fluch, wenn ihr nicht hört auf die Gebote des Ewigen eures Gʻttes, und
von dem Weg abweicht, den Ich euch heute befehle, wenn ihr fremden Göttern nachgeht,
die ihr nicht gekannt habt“.
(Dewarim 11: 26-28)
Aus: „Zeitlos aktuell“, Zwi Braun
Beim Einzug ins Land sollten Segen und Fluch auf den hier bestimmten Bergen Gerisim
und Ewal bei Schʻchem (Nablus) vorgetragen werden.
Der Wochenabschnitt „Ki Tawo“ (Kap. 27) beschreibt die näheren Umstände. Auffällig ist im
oberen Vers der Wechsel in der Anrede von der Einzahl - ʻsieheʻ - zur Mehrzahl - ʻeuchʻ.
Rabbi Menachem Mendel von Kozk erklärt dies dahingehend, dass das Vorlegen von
Segen und Fluch für alle gleich war (lifnechem). Welche Schlussfolgerungen daraus aber
der Einzelne zog, das war individuell ganz verschieden. Das intellektuelle ʻSehenʻ, das
Verständnis jedes Einzelnen für die Gebote war nicht gleich.
In diesem Sinne erklärt der Kozker Rebbe auch die Formulierung im Kiddusch zu
Schawuot: die Zeit unserer Gesetzgebung (Sʻman Matan Toratenu). Eigentlich hätten wir
erwartet: die Zeit unseres Gesetzempfangens! Tatsächlich war nur die ʻGabeʻ für alle Bnej
Israel gleich, das ʻEmpfangenʻ des gʻttlichen Wortes, der ʻBlickʻ (Reʻe) und das Verständnis
dafür jedoch unterschiedlich ausgeprägt.
Der Kli Jakar deutet den Wechsel vom Singular zum Plural, indem er eine talmudische
Maxime zitiert. Diese besagt, dass der Mensch sich die Verteilung von Gut und Böse auf
dieser Welt in Form zweier Waagschalen vorstellen sollte, die sich das Gleichgewicht
halten. Eine gute Tat verändert das Gleichgewicht zum Guten. Ebenso kann eine schlechte
Tat das Gleichgewicht zum Bösen verschieben. So hat das Handeln jedes Einzelnen (Re‘e)
Einfluss auf die gesamte Gesellschaft (euch - lifnechem)!
Das ʻIchʻ im Vers 26 lautet im Hebräischen ʻAnochiʻ. Der Baal Haturim verweist auf die
Zehn Gebote, welche ebenfalls mit dem Wort ʻAnochiʻ beginnen. Indem er das ʻAnochiʻ, in
unserem Passuk als Objekt auffast, kann man den Vers so verstehen:
Mosche legt das ʻAnochiʻ, d.h. die Zehn Gebote, Inbegriff der ganzen TORAH, dem Volk
zur sorgfältigen Abwägung vor. In chassidischer Art und Weise deutet Rabbi Kalonymus
Kalman Epstein von Krakau in seinem Kommentar “Maor waSchemesch“ das ʻAnochiʻ.
Das ʻIchʻ des Menschen, sein Egoismus, bestimmt über Fluch und Segen. Der Mensch
kann seine ganze Persönlichkeit für das Gute, aber auch für das Böse einsetzen. Letzten
Endes entscheidet der Mensch ganz allein über Fluch und Segen.
Die deutsche Übersetzung gibt eine bedeutungsvolle Variante in den Versen 27 und
28 nicht wieder. ʻWenn ihr hörtʻ, bzw. ʻwenn ihr nicht hörtʻ, lautet im Hebräischen ʻascher
tischmeʻuʻ, bzw. ʻim lo tischmeʻuʻ. Das hebräische ʻimʻ leitet eine Bedingung ein, wobei aber
offen bleibt, ob sie eintrifft oder nicht. In unserem Fall, das Nichtbeachten des gʻttlichen
Wortes.
ʻAscherʻ hingegen ist eine Formulierung, die benützt wird, um anzudeuten, dass die daran
geknüpfte Bedingung in der Zukunft auf alle Fälle eintreffen wird. Letzten Endes wird das
Volk auf die Worte Gʻttes hören, Seine Mitzwot erfüllen und so ganz gewiss des Segens
würdig sein (Rabbi Pinchas Horowitz).
Auch Rabbiner S.R. Hirsch geht auf den Unterschied zwischen ʻascherʻ und ʻimʻ ein:
„Die Erfüllung der gʻttlichen Gebote ist schon ein wahrer Bestandteil des Segens, der
nicht nur dem Gehorsam nachfolgt, sondern bereits in dem Gehorsam und der treuen
Pflichterfüllung seine Verwirklichung beginnt. Die geistige und sittliche Tat, die sich in jeder
Gesetzestreue vollzieht, ist selbst bereits ein segensreicher Fortschritt unseres ganzen
Wesens. Und mit jeder Mitzwa-Tat segnen wir uns selbst“.
Es ist, als formuliere die Torah: „Der Segen, der darin liegt, dass ihr hört auf die Gebote des
Ewigen eures Gʻttes“.
Wir finden diese Interpretation schon bei Rabbi Elijahu Schlomo Awraham haKohen von
Smyrna. In seinem klassischen Werk zur jüdischen Ethik „Schewet Mussar“ (Kap. 46)
erweitert er diesen Gedanken. Indem der Mensch Mitzwot ausübt, nähert er sich mit jeder
Mitzwa seinem Schöpfer, worin der grösste Segen überhaupt liegt. Zum ersten Mal ist
diese Idee wohl in Pirke Awot erwähnt, wo Ben Asai sagt:
„Eine Mitzwa zieht eine Mitzwa nach sich, und auf eine Sünde folgt eine Sünde. Der
Lohn für eine Mitzwa ist eine Mitzwa...“ (4:2).
Dazu bemerkt Rabbi Josef Jabez:
„Der Lohn für eine Mitzwa ist die Mitzwa selbst, nämlich die Tatsache, dass man in der
Lage war, den Willen Gʻttes zu erfüllen - gibt es einen grösseren Lohn als diesen?“