Paraschat “BESCHALLACH“ Empfehlung

23. Januar 2021 geschrieben von   Channa Rachel Freigegeben in Beschalach

ב"ה

Paraschat “BESCHALLACH“

Auszug aus: Studien zu den wöchentlichen Tora-Vorlesungen
von Nechama Leibowitz

Ägypten als Flucht- und Anziehungspunkt

In dieser Sidra, die Israel erstmals in dieser Situation nach der Befreiung aus der
ägyptischen Knechtschaft zeigt, ist noch viel zu sehen von dessen aus der Zeit der
Sklaverei transportierter Angst, Kleinlichkeit und Nörgelei - doch auch etwas von seiner
Größe. Rabbi Elieser erklärt im Midrasch Mechilta, die Formulierung “Mosche brach mit
den Israeliten auf“ (Schmot 15:22) weise darauf hin, dass das Volk ihm ohne weitere
Nachfrage und Rückversicherungen vertrauensvoll gefolgt sei.

Es ließe sich fragen, was daran so lobenswert ist; schließlich war es doch der Weg
aus der schlimmsten Sklaverei, dem göttlichen Gesetz und dem eigenen Land entgegen.
Was hätte sie an einem spontanen Befolgen von Mosches Aufbruchsignal hindern sollen?
Hierbei gilt es zu bedenken, dass sie noch kurze Zeit zuvor nicht imstande waren, Mosches
Befreiungsbotschaft zu folgen: “Sie hörten Mosche nicht vor Kürze des Geistes und vor
Schwerarbeit“ (Schmot 6:9). Und schließlich führte der Weg zunächst ja nur in die Ödnis
(und nicht zu unterschätzende Gefahr) der Wüstenexistenz. Ägypten dagegen, auch wenn
es die Stätte ihrer Knechtschaft war, stellte doch das Zentrum der damaligen
zivilisatorischen Entwicklung und auch einen Ort voller Nahrung dar.

Doch der große Moment, indem das Volk Mosche gläubig folgt, ist kurz, und deshalb
heißt es in 13:17, Gʻtt habe das Volk nicht über den nächsten Weg via Philisterland nach
Israel geführt: “Denn er ist nahe; denn Gʻtt sagte: Dass nicht das Volk es bedaure, wenn es
Krieg sieht, und sie nach Mizrajim zurückkehren.“ Die meisten Erklärer, unter ihnen etwa
Raschbam, erklären diesen Vers mit der Pädagogik Gʻttes: Es sei darum gegangen zu
verhindern, dass sie im Angesicht eines bevorstehenden Krieges um das Land einfach
umgekehrt und nach Mizrajim zurückgerannt wären. Maimonides in seinem “Führer der
Verirrten“ allerdings gibt zwei andere Erklärungen: Es sei darum gegangen, durch die lange
Kargheit und Mühsal des Wüstenlebens das Bedürfnis nach einem Land und die Kraft zu
seiner Eroberung erst richtig zu wecken, was bei einem direkten Übergang von Mizrajim ins
Land Israel nie möglich gewesen wäre; und es habe die Zeit in der Wüste, schließlich auch
den Generationenwechsel gebraucht, um aus den ehemaligen Sklaven ein Volk
kampffähiger, seelisch unbelasteter Eroberer zu machen. Anders als der abwaschbare
Schmutz am Körper, so Maimonides, lasse sich die seelische Beeinträchtigung
jahrhunderterlanger Knechtschaft in einem Volk nicht von einem Tag auf den anderen
wegwischen.

Wie schwer die Loslösung Israels von Mizrajim fiel, zeigt uns etwa die Szene der
Verfolgung Israels durch das ägyptische Heer vor dem Schilfmeer. In 14:9 bei der
Beschreibung der Verfolgung werden die Ägypter in der Mehrzahl genannt (“sie verfolgten
sie und erreichten sie, lagernd am Meer“), in 14:10, aus der Wahrnehmung Israels, in der
Einzahl (“die Israeliten erhoben ihre Augen, und siehe, Ägypten fährt hinter ihnen her, und
sie fürchteten sich sehr“). Warum dieser, in der genauen Sprache der Tora keineswegs
zufällige Wechsel von der Mehrzahl in die Einzahl? In der Wahrnehmung Israels erschien
das ägyptische Heer, wie Raschi in einer Erklärungsvariante sagt, “mit einem Herzen wie
ein Mann“, nach seiner anderen Erklärungsvariante als “Fürst von Ägypten“, eine
Personifikation, deren sich der Midrasch bedient, um den Charakter und die Ideologie eines
bestimmten Volkes zu beschreiben. Dieses verinnerlichte Bild der über sie gesetzten
Herren war es, wie Rabbi Abraham ibn Esra erklärt, das dieses Volk von sechshunderttausend
wehrfähigen Männern daran gehindert hat, sich gegen die nicht sehr
zahlreichen ägyptischen Aggressoren für sich und ihre Kinder zu wehren. Hinzu sei eine
generelle Unerfahrenheit im Kämpfen gekommen, die das Volk auch in der Konfrontation
mit Amalek hilflos gemacht habe. Auf dieser Basis und für diese Generation wäre dann
auch ein Krieg um das Land Kanaan nicht möglich gewesen.

In den drei Versen 14:10-12, in denen die Israeliten zu Mosche schreien, den Gang in
die Wüste bereuen und beteuern, lieber Ägypten zu dienen als hier zu sterben, kommt das
Wort “Ägypten“ nicht weniger als fünfmal vor. Nach allen Wundern, die das Volk gesehen
hat, nach den zehn Plagen, dem Auszug und dem Versprechen ins Land der Vorväter
zurückzukehren, streben sie doch wieder zurück ins Land ihrer Geburt und ihres elenden
Lebens. All die Verheißungen des zukünftigen Landes erscheinen abstrakt und distanziert
vor der einen, unmittelbaren Perspektive: Dem Tod in der Wüste.

Vor einer Kapitulation in dieser Situation kann nur ein Wunder sie retten!