Paraschat “Wajeschew“ Empfehlung

11. Dezember 2022 geschrieben von   Channa Rachel Freigegeben in Wajeschew

ב"ה

Paraschat “Wajeschew“ 

Auszug aus: Studien zu den wöchentlichen Tora-Vorlesungen, von Nechama Leibowitz 

Der Mann, der den Weg weist 

Mit “Wajeschew“ beginnt jener Erzählkomplex, der sich über drei Wochenabschnitte 
(Wajeschew, Mikez, Wajigasch) erstreckt und Schritt für Schritt Doppelungen des 
menschlichen und gʻttlichen Handelns aufweist. Was Menschen aus natürlichen 
nachvollziehbaren Gründen tun, wird zugleich von einer begleitenden und führenden 
gʻttlichen Vorsehung einem Ziel entgegengesteuert. In diesen Kontext ist schon das
auslösende Moment der Erzählung zu stellen. Es heißt von Jaakow: „Er schickte ihn
(Josef) vom Tal Chebron“ (Bereschit 37:14). Am Ende der Erzählung offenbart Josef
gegenüber den Brüdern mit demselben Verb den gʻttlichen Plan hinter dem menschlichen
Handeln: „Nicht ihr habt mich hierher geschickt, sondern Gʻtt“ (Bereschit 45:8).

Zwei Ebenen des Schickens also: Jaakow, der seinen Sohn Josef zu den Brüdern schickt,
die bei Schechem das Kleinvieh weiden, um nach ihrem und der Tiere Wohlergehen zu
sehen - und Gʻtt, der auf diesem Weg, wie schon Awraham angekündigt, dessen
Nachkommen in die ägyptische Knechtschaft schickt.

Schon der Midrasch hat auf diese Doppelfunktion des Schickens Bezug genommen. Bei
Raschi wird das so formuliert. „Er schickte ihn vom Tal Chebron: Chebron liegt doch am
Berg?! (Gemeint ist nicht aus einem physischen Tal, hebr.: emek, sondern aus einem tiefen
Ratschluss, hebr.: etza amuka, jenes Gerechten, der in Chebron begraben ist, einzuhalten,
was dem Awraham im Bund zwischen den Tierhälften gesagt wurde: ,Denn ein Fremder
wird dein Nachkomme seinʻ (Bereschit 15:13).“ Raschi sieht also im “Tal Chebron“ keine
geographische Angabe, sondern eine kausale. Ein “tiefer Ratschluss“ leitet die Dinge ein.

Ein Mann, den Josef bei Schechem trifft, fragt ihn, was er möchte, und als Josef ihn
darauhin fragt, wo seine Brüder das Vieh hüten, antwortet er ihm, er habe sie sagen hören,
sie wollten nach Dotan gehen, wo Josef sie dann auch findet (Bereschit 37: 14-17). Die
kurze Szene zwischen Josef und dem Mann, der ihm den Weg weist, findet zwischen zwei
Welten statt: zwischen der ruhigen, behüteten Jugend Josefs im Hause seines Vaters und
der Welt des Leidens, in die er nach dem Zusammentreffen mit den Brüdern eintritt.

Die Gelehrten aller Zeiten haben sich gleichermaßen hinsichtlich der Aussagekraft dieses
kurzen Gesprächs gefragt, da doch die Tora realisischer Szenen, nebensächlicher
Persönlichkeiten und bloßer Schilderung wegen nie viele Worte macht. Im Midrasch
Tanchuma wird der geheimnisvolle, aus dem Nichts auftauchende Mann, der das Gespräch
beginnt, ohne gefragt worden zu sein, und der alles weiß, nicht als irgendein
vorübergehender Fremder verstanden, sondern als Engel, hebr.: malʻach.

Nachmanides aber, indem er die Meinung des Midrasch zusätzlich begründet mit dem Satz
Gʻttes Ratschluss wird bestehen“ (Mischle 19:21), deutet zugleich das Wort malʻach
gemäß der anderen Bedeutung, die es im Hebräischen auch haben kann: als einfachen,
nicht himmlischen Boten, als Mensch, der “ohne sein Wissen“, im Glauben, bloß Josef zu
seinen Brüdern zu schicken, den Gang der Geschichte über den Verkauf Josefs nach
Ägypten und die Knechtschaft der Israeliten dort bis hin zur Offenbarung vom Sinai
einleitet. Was der Midrasch und Raschi im bildlichen Ausdruck vom “Engel Gabriel“ fassen,
übersetzt Nachmanides in ein abstraktes Konzept des von Gʻtt Gesandten, der nichts von
einem höheren Auftrag weiß. Selbst die Brüder wissen nicht um den tieferen Sinn ihres
Handelns, als sie Josef verkaufen. Nur eines weiß Josef selbst, nämlich, dass er nicht
allein und verlassen ist in dieser Welt, in der kein Mensch bei ihm ist, weder Vater noch
Bruder oder sonstige Verwandte - Gʻtt ist mit ihm. Es ist interessant zu beobachten, dass
von Josef vom Moment an, da er seine Brüder trifft und sein Leidensweg seinen Lauf
nimmt, kein Wort mehr zu vernehmen ist, gleichsam, als sei er verstummt. Das setzt sich
fort im Hause Potiphars, wo er zum Hauptverwalter “von schöner Gestalt und schönem
Antlitz“ aufsteigt (Bereschit 39:6). Wir hören ihn erst wieder im Moment der Versuchung, als
er Potiphars Frau widersteht. Nachem er dies zunächst mit den Begriffen begründet, die ihr
allein einsichtig sein können (der Treue gegenüber seinem Herrn Potiphar), bemerkt er
zum Schluss: „Ich würde sündigen gegenüber Gʻtt“ (Bereschit 39:9). Dann hören wir ihn
wieder, wie er im Gefängnis sitzt und dem Mundschenk und dem Bäcker sagt: „Gʻtt hat
doch die Lösungen, erzählt mir doch eure Träume“ (Bereschit 40:8).

Josef wird sich auch weiterhin als Fremder vor den Größten und Mächtigsten, selbst vor
Paro, offen zu seinem Gʻtt bekennen, nichts wird ihn davon abhalten.