Paraschat “MISCHPATIM משפטים“
Auszug aus: Zeitlos aktuell - Gedanken zum Wochenabschnitt, von Dr. Zwi Braun
Freiheit und Knechtschaft
“Und dies sind die Rechtsentscheidungen, die du ihnen vorlegen sollst. Wenn du einen
hebräischen Knecht (Ewed Iwri) aneignest - sechs Jahre mag er dienen und im siebenten
gehe er umsonst aus“ (Schmot 21: 1,2).
Nach der Offenbarung der Zehn Gebote als Kern des jüdischen Gesetzes wendet sich
die Tora der weiteren Gesetzgebung zu. Der erste Vers unserer Parascha umfasst fünf
Worte. Der Baal Haturim sieht darin die Gültigkeit aller fünf Bücher der Tora mit ihren
Vorschriften und Gesetzen widergespiegelt. Doch warum beginnt der göttliche Gesetzgeber
ausgerechnet mit dem Gesetz des Ewed Iwri? Benno Jacob analysiert den
Zusammenhang:
“Die christlichen Erklärer nennen die beiden ersten Absätze: das Gesetz über die
Sklaven und deren Recht. Das ist inkorrekt gesprochen. Denn schon der erste Satz besagt,
dass es hebräische ʻSklavenʻ nicht gibt. Ein Sklave auf Zeit ist ein juristischer Widersinn.
Ferner wird von Rechten oder Obliegenheiten des Ewed während seines Dienstes gar nicht
geredet, sondern nur davon, wann und wie er aufhört, Knecht zu sein. Ebendies ist aber
der Sinn dieser Vorbemerkung: festzustellen, dass es hebräische Sklaven nicht geben darf.
Das oberste Grundrecht des aus dem Sklavenhaus Ägypten geführten Israeliten, sein
Mischpat, ist die persönliche Freiheit. Die Mischpatim stellen also denselben Gedanken an
die Spitze wie der Dekalog, ja schon das erste Gesetz, nachdem man den Boden Ägyptens
verlassen hat, und wollen damit für das Rechtsleben Ernst machen. Wenn also nachher
gemäß der altorientalischen Gesetzestechnik jedesmal für wirkliche Sklaven
(lebenslängliche Knechte) besondere Bestimmungen zu geben sind, so soll von vornherein
festgestellt werden, dass darunter nicht Israeliten verstanden werden dürfen, auch wenn
sie sich eine zeitweilige Dienstbarkeit zugezogen hatten. Ein besonderes Wort für Sklave
gibt es im Hebräischen überhaupt nicht, Ewed ist ein Arbeiter, Knecht, Diener,
Untergebener, Angestellter, Beamter, aber der Begriff der Dauer und Leibeigenschaft liegt
nicht in dem Wort.“
Was geschieht mit einem nichtjüdischen Knecht, den man erwirbt? Ein Vorgang, der in
der Antike gang und gäbe war. Rambam hält in den Hilchot Awadim (8:12) die geltenden
Vorschriften fest. Nach einer zwölfmonatigen Bedenkzeit kann der Knecht sich zu einer
Beschneidung bereit erklären, was für ihn religionsgesetzlich eine “Teilaufnahme“ ins
Judentum bedeutet. Von allen zeitgebundenen Mizwot ist er befreit, alle Verbote gelten
auch für ihn. Nach der Freilassung durch seinen Herren wird er volles Mitglied des
jüdischen Volkes. Lehnt er eine Beschneidung ab, so hat sein Herr sich von ihm zu
trennen. Rabbiner Samson Raphael Hirsch geht in seinem Kommentar vom klassischen
Verständnis dieser Stelle durch unsere Weisen aus. Nach ihm handelt es sich hier um den
Verkauf eines Diebes durch den Gerichtshof, damit dieser seine Schuld abarbeiten kann:
“Es ist dies durchaus der einzige Fall, in welchem das göttliche Gesetz eine
Freiheitsstrafe diktiert - (wir werden sehen, dass auch dieser nicht als Strafe zu begreifen
ist) - und wie diktiert es sie? Es statuiert die Unterbringung des Verbrechers in eine Familie,
wie wir einen zu bessernden Knaben unterbringen würden. Und mit welchen Kautelen
umgibt es diese Unterbringung, damit das moralische Selbstbewusstsein dieses
Verbrechers nicht zerknickt werde. Damit er sich trotz seiner Erniedrigung noch immer als
Bruder geachtet und behandelt fühle, Liebe erwerben und Liebe geben könne. Wie lässt es
ihn in Verbindung mit seiner Familie, und wie sorgt es, dass nicht seine Familie durch sein
Verbrechen und dessen Folgen dem Elend preisgegeben sei! Indem es ihn der Freiheit und
damit der Möglichkeit beraubt, für die Seinen zu sorgen, legt es diese Sorge denen auf,
denen für die Zeit seiner Unfreiheit seine Kräfte zugute kommen. Freiheitsstrafen, mit all
der Verzweiflung und sittlichen Verschlechterung, die hinter den Kerkermauern wohnen, mit
all dem Jammer und Elend, die sie über Frau und Kind des Gefangenen bringen, kennt das
göttliche Gesetz nicht.
Allein auch dieser einzige Fall, in welchem es einen Verlust der Freiheit infolge eines
Verbrechens statuiert, kann nicht als Strafe begriffen werden. Diese Bestimmung ist nichts
als einfache Konsequenz aus der Ersatzpflicht. Ersatzpflicht ist aber nicht Strafe, ist
vielmehr nur Wiederaufhebung des Verbrechens, das solange fortdauert, als die
verbrecherisch oder rechtswidrig geübte Eigentumsbeschädigung nicht wieder gutgemacht
ist. Wer sich an jemandes Eigentum vergreift, er ist im selben Augenblick durch seine Tat
mit seinem Vermögen, oder, wo dies nicht vorhanden, mit seiner Arbeitskraft der
Verpflichtung verfallen, den von ihm gebrachten Schaden zu restituieren.“
!Wir haben es hier also nicht mit Sklaverei zu tun, auf welcher übrigens das
“demokratische“ Athen der Antike beruhte, sondern mit Vorschriften, welche der
Resozialisierung straffällig Gewordener dienen. Wie “modern“ ist das Gedankengut der
Tora!